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HERRSCHAFT/1846: Landtagswahlen - Opportunismus bleibt Opportunismus ... (SB)



Wenn Ostdeutschen eine als Erbe der DDR ausgewiesene Obrigkeitshörigkeit angelastet wird, so wird dieser Vorwurf zumindest bei der Klientel der AfD vor allem gegen Menschen jungen und mittleren Alters erhoben, die gar nicht mehr in der DDR aufgewachsen sind oder den größten Teil ihres Lebens in der BRD verbracht haben. Den Popanz DDR hervorzuholen, um eine griffige Erklärung für die besonders hohen Wahlergebnisse der AfD in den "neuen" Bundesländern zu haben, heißt die vielen Faktoren sozialer Benachteiligung, die erst nach dem Anschluß der DDR an die BRD entstanden sind, zum Erhalt des guten Rufes der sogenannten Wiedervereinigung gering zu schätzen. Wären die Lebensbedingungen im Westteil der Republik so schlecht wie in den ökonomisch und infrastrukturell abgehängten Regionen des Ostens, dann hätte die AfD auch dort eine noch größere Anhängerschaft als ohnehin schon.

Sich an mehr oder weniger evidenten Vergleichskriterien abzuarbeiten und eine auf die Verhinderung der AfD in Regierungsverantwortung orientierte Wahlarithmetik zu diskutieren unterschlägt wirksam die inhaltliche Nähe der etablierten Parteien zu politischen Positionen der extremen Rechten. Was wie eine Notstandsübung zur Rettung der parlamentarischen Demokratie wirkt, soll die Adaption nationalistischer und sozialrassistischer Forderungen rechtfertigen. Mit dem Vorwand, dem Orignal solle das populistische Wasser abgegraben werden, heiligt der Zweck Mittel, die ihrerseits zu Zwecken autoritärer Staatlichkeit werden.

Bis auf die Linkspartei bejahen alle im Bundestag vertretenen Parteien Kriegseinsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Bündnisgebietes, sie sind sich einig über den Primat der kapitalistischen Eigentumsordnung und favorisieren den neoliberalen Markt als maßgebliche Achse politischer Willensbildung und prinzipielles Regulativ des EU-europäischen Binnenmarktes. Nur in der Linkspartei und von einigen Grünen und Sozialdemokraten wird prinzipielle Kritik am System der EU-Flüchtlingsabwehr geübt, nur wenige PolitikerInnen denken überhaupt darüber nach, daß die kapitalistisch organisierte Arbeitsgesellschaft mit den notwendigen Schritten zur Eindämmung der Klimakatastrophe nicht vereinbar ist.

Den Einfluß der Neuen Rechten zurückzudrängen, ohne die Probleme der deutschen Gesellschaft als integralen Bestandteil globaler Krisenbewältigung zu verstehen, beschleunigt die Rechtsdrift bürgerlicher Parteien. Dazu bietet das System der Stellvertreterdemokratie beste strukturelle Voraussetzungen. Wo Politik als Adresse für Beschwerden fungiert, die sich darin treffen, die Verantwortung für das eigene Leben an bürokratische Apparate zu delegieren, läßt sich das Selbstverständnis, Herrschaft zu konsumieren, anstatt Politik in die eigene Hand zu nehmen, nicht auf eine Rechte reduzieren, deren Staatsverständnis synonym mit Autoritätshörigkeit zu setzen ist.

Die in permanenter Konkurrenz begriffenen Marktsubjekte hätten allen Grund dazu, die durch Stellvertreterpolitik gewährleistete Durchsetzung von Kapitalinteressen zu überwinden. Den allermeisten bringt der emotionale und nervliche Streß sozialer Selbstbehauptung nichts ein als Verluste an Tatkraft und Lebensfreude. Nur im Vergleich mit Schlechtergestellten lassen sich Vorteile bilanzieren und Entlastungseffekte produzieren. Der schwache Trost, auf diese Weise die Misere der atomisierten Klassengesellschaft vergessen zu machen, besetzt den Platz ihrer Überwindung. Ohne Mut zu kollektiver Streitbarkeit zu fassen hält man sich die Totalität gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse wirksam vom Leibe. Sich von rechtsförmigen Gleichheitspostulaten und moralischen Werten nicht beschwichtigen zu lassen führt allerdings in die gefährliche Nähe von Ohnmachtserfahrungen, die üblicherweise mit der vielzitierten Alltagsweisheit, man könne ja sowieso nichts tun, in der Büchse der Pandora gehalten werden.

Die Zustimmung zur nationalen Selbstbehauptung im kapitalistischen Weltsystem kann das Konkurrenzverhältnis nicht aufheben, weil sie auf ihm basiert. Was offen nationalistisch und rassistisch argumentierende Parteien wie AfD und NPD zur Gesinnung verabsolutieren, findet in der praktischen Politik eines imperialistischen Staates alltäglich statt, wenn das steile Gefälle der Produktivität in den Zielgebieten des Erwerbs billiger Rohstoffe und Arbeitskraft, des Absatzes der eigenen Überproduktion und des Kapitalexportes seinen tiefsten Punkt findet. In der Globalisierung des Warentausches und der Finanzinvestition ist der Weltmarkt die zentrale Bezugsgröße nationaler Reichtumserzeugung. Diese von der Ortlosigkeit des prozessierenden Wertes abkoppeln zu können ist das Pfund, mit dem die neue Rechte wuchert. Das darin angelegte Zerstörungspotential weiter bewirtschaften zu können, ohne selbst davon betroffen zu sein, ist ihr zentrales Heilsversprechen und liegt aller bis zum offenen Krieg getriebenen Staatenkonkurrenz zugrunde.

Daß die in den Zentren der industriellen und finanziellen Produktivität erzeugte Kapitalakkumulation ihre Entsprechung in sozialem Elend und massiver Naturzerstörung andernorts findet, ist kein Geheimnis und wird doch angestrengt geleugnet. So waten nicht nur Nationalchauvinisten mit ihren Stiefeln im Blut, sie tun es allerdings mit einer Entschiedenheit, die keinen Zweifel am bedrohlichen Charakter des von ihnen propagierten Gesellschaftsmodells läßt. Da die politische Rechtsentwicklung in ganz verschiedenen Ländern synchron verläuft, liegt nahe, die Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Weltsystems für die Konjunktur sozialdarwinistischer Überlebenslogik verantwortlich zu machen. Der Faschismus erwächst nicht einfach aus bloßen Überzeugungen und ist kein Resultat psychologischer Mechanismen, er wird von materiellen Bedingungen hervorgebracht, deren schmerzhafte Folgen auf Haut und Knochen jedes einzelnen gehen.

Die mit den notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der Klimakatastrophe anstehende Umverteilung des Naturverbrauchs wird auch im grün gewendeten Kapitalismus ein allgemeines Minus an Konsumgütern und Versorgungsleistungen zur Folge haben. Die Absehbarkeit großer Wanderungsbewegungen aus Regionen, in denen die natürlichen Lebensvoraussetzungen zerstört worden sind, bei gleichzeitiger Verknappung auf fossiler Energie basierender Produkte im eigenen Land könnte die Existenzangst nicht besser nähren. Um so intensiver wird der Streit um die Neuverteilung materieller Privilegien geführt. Das Wissen, daß der Weg voran nach Lage notwendiger Krisenbewältigung zu weltweiter Koordination und Abstimmung führen muß, löst unter Menschen in wohlhabenden Ländern fast von selbst den Reflex aus, sich auf das Eigene zu besinnen und es um so mehr zu verteidigen.

Dies beim Räsonieren um die Bedeutung der jüngsten Landtagswahlen nicht zu berücksichtigen ist dem immergleichen Opportunismus geschuldet, das Fähnchen in den Wind zu hängen, woher auch immer er weht und wie faulig der von ihm verbreitete Verwesungsgeruch auch sein mag. Mit sorgenzerfurchter Miene darüber zu debattieren, ob die AfD-Wählerinnen ihre Entscheidung eher nach inhaltlichen Kriterien treffen oder aus Protestgründen rechts wählen, ist müßig. Vorauseilende Unterwerfung unter die herrschende Verwertungslogik und ihre aggressive Durchsetzung ist überall dort gegeben, wo das Ergreifen elementarer Maßnahmen zur Schaffung einer Gesellschaft, in der soziale Gleichheit nicht auf dem Altar kapitalistischer Mehrwertproduktion und imperialistischer Landnahme geopfert wird, als irrational, betonkommunistisch, linksgrün versifft o.ä. diffamiert und negiert wird. Der Platz an den Fleischtöpfen will verteidigt und gesichert werden - dafür wird auch das letzte Quentchen Denkvermögen bereitwillig preisgegeben.

2. September 2019


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