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HERRSCHAFT/1848: Brexit - verhandlungs- und mittellos... (SB)



Bei einem ungeregelten Brexit könnte es innerhalb weniger Tage zu einer Versorgungskrise in Großbritannien kommen, die die Anwendung von Notstandsmaßnahmen rechtfertigte. Zum einen werden erhebliche Umsatzrückgänge in der britischen Agrar- und Nahrungsmittelindustrie prognostiziert, zum andern wird eine Unterbrechung des Nachschubes aus der EU in das zu 30 Prozent von Importen an Nahrungsmitteln abhängige Königreich befürchtet. Die zu erwartenden Preissteigerungen und der Ansturm auf noch vorhandene Lebensmittel werden, so die Prognose des Medizinjournals The Lancet [1], einkommensarme Menschen mit konkretem Hunger konfrontieren.

Bei den Riots im Sommer 2011 hat sich gezeigt, daß die Schwelle zu aufstandsartigen Entwicklungen in der britischen Klassengesellschaft nicht sehr hoch ist. Anders als vielfach berichtet handelte es sich bei den Plünderungen von Geschäften nicht nur um eine Lustbarkeit gelangweilter Jugendlicher, sondern der soziale Faktor verbreiteter Armut hat maßgeblich zur schnellen Entwicklung eines regelrechten Flächenbrandes beigetragen [2]. Wenn schon, wie vor acht Jahren, ein Akt von Polizeibrutalität als Auslöser für aufstandsartige Erhebungen ausreicht, so wird das für Unterbrechungen in der Nahrungsmittelversorgung erst recht gelten.

Die Regierung hat im Rahmen umfassender Notstandsplanungen bereits Vorkehrungen getroffen, um in einem solchen Fall Militär zur Verstärkung der Polizei einzusetzen [3]. Obwohl über diese unter Codenamen wie Operation Yellowhammer oder Operation Redfold firmierenden Planungen in den Medien berichtet wurde, scheint die Bevölkerung weder von möglichen Versorgungslücken noch den staatlichen Vorbereitungen zur Verhängung des Ausnahmezustandes und der militärischen Aufstandsbekämpfung so beunruhigt zu sein, daß sie in Umfragen mehrheitlich gegen den Brexit votierte. Anders als in der Kampagne vor dem Referendum im Juni 2016 suggeriert, werden einkommensarme Haushalte selbst bei einem mit der EU verhandelten Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union eher weitere Nachteile in Kauf nehmen müssen, als daß die verringerte Zahl von ArbeitsmigrantInnen, wie behauptet, ihnen irgendwelche Vorteile einbrächte.

So bringt insbesondere das Insistieren auf einen No-Deal-Brexit hervor, was in seiner nationalchauvinistisch motivierten Begründung angelegt ist - die virulente Klassenkonfrontation wird mit einseitiger Repression unterdrückt und dient im Krisenfall als Vorwand zum Ergreifen staatsautoritärer Maßnahmen. Bei aller begründeten Kritik an der neoliberalen Verfaßtheit der Europäischen Union und des in ihrer administrativen Struktur gewachsenen Einflusses monopolkapitalistischer Akteure bleibt die Frage, ob die Rückkehr zu nationalstaatlichen Regulationsweisen emanzipatorischen Zielen tatsächlich dienlich wäre.

Allein die große Abhängigkeit des Vereinigten Königreiches von den am Finanzmarkt der Londoner City erwirtschafteten Einkünften und der postindustrielle Charakter der Gesellschaft, deren güterproduzierender Sektor für das Erwirtschaften von nicht viel mehr als einem Zehntel des Bruttoinlandproduktes zuständig ist, spricht gegen die sozial fortschrittliche Auswirkung des Brexit. Die von den nationalkonservativen Eliten propagierte Idee, mit dem Ausscheren des Landes aus den Handelsregularien der EU sei es dem Vereinigten Königreich endlich freigestellt, noch mehr Reichtum zu erwirtschaften, mündet in eine neokolonialistische Akkumulationsweise, die der Klasse der Abgehängten und LohnarbeiterInnen im Land kaum einen anderen Platz zuweist als denjenigen, auf dem sich die Kolonialsubjekte in den Ländern des Südens gegenüber den Investoren an den traditionellen Standorten der Kapitalkonzentration zu behaupten haben.

Die Hoffnung der Menschen, deren Einkommen gerade eben zum Sattwerden reicht und die über kein Eigentum außer ihrem arbeitsfähigen Körper verfügen, an der Beute imperialistischer Globalstrategien teilzuhaben, hat sich an einem Weltmarkt, der die letztgültige Referenz allen national bestimmten Wirtschaftens darstellt, längst erledigt. Daß diese Hoffnung in vielen Industriestaaten nationalchauvinistischen und rassistischen Ressentiments Auftrieb gegeben hat, ist Beweis ihrer Irrelevanz und Ausdruck ihrer Vergeblichkeit.

Die weltpolitische Machtstellung rohstoffarmer Staaten wie der Bundesrepublik und Großbritanniens aufrechtzuerhalten und auszubauen geht nicht ohne die Ausbeutung der Ressourcen anderer Länder und permanente Lohndrückerei zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit im eigenen Land. Daraus, daß der Faktor Arbeitskraft immer weniger an den nationalen Standort gebunden ist und sein hochflexibler Charakter das Organisieren kollektiven Widerstands der Lohnabhängigen vor große Schwierigkeiten stellt, den Schluß zu ziehen, mit der Rückbesinnung auf den starken Nationalstaat könne dieser Widerstand neue Kraft entfalten, macht die Rechnung ohne den Wirt eines Marktes, dessen Subjekte nach Jahrzehnten neoliberaler Zurichtung so weitgehend atomisiert sind, daß sie leichte Beute der Einflüsterungen neofaschistischer Demagogen wurden.

In drei Jahren des politischen Streites um den Brexit wurden Klassenfragen kaum gestellt, und die britische Linke ist ihrerseits zerstritten zwischen Austritt und Verbleib in der EU. Dem Brexit keine anderen Seiten als die Diskussion seiner technischen Modalitäten und des Erlangens dafür erforderlicher Mehrheiten abzugewinnen, hat ausschließlich die Agenturen technologischer Herrschaft und politischer Macht gestärkt. Wenn nicht einmal die Aussicht darauf, nach dem Vollzug des Brexit existenzbedrohenden Mangel zu erleiden, die angebliche Privilegierung der britischen Bevölkerung in Frage stellt, dann ist am herrschaftsstrategischen Charakter dieses Manövers kaum zu zweifeln.

Anstatt in der Polarität pro und contra EU zu verbleiben und es in beiden Fällen mit regressiven Entwicklungen zu tun zu bekommen, wäre über das Organisieren transnationaler und internationalistischer Formen des politischen Kampfes nachzudenken. Zu kritisieren am Brexit ist nicht, daß über die Zukunft Großbritanniens abgestimmt wurde, sondern daß so etwas möglich ist, ohne am unzureichenden Charakter sachkundiger Informiertheit und des ungehinderten Propagierens rassistischer Suprematie etwas zu ändern. Die Sicht auf die zu bewältigende Krise der Klimakatastrophe und die Totalität kapitalistischer Vergesellschaftung derart zu verengen, daß die Orientierung am Nationalstaat zentraler Streitpunkt bleibt, während seine Unfähigkeit, als Subjekt zwischenimperialistischer Konkurrenz globale Krisen auf wirksame Weise in Angriff zu nehmen, als erwiesen gelten kann, unterstreicht die irreführende Mutmaßung, beim Brexit handle es sich tatsächlich um eine existentielle Entscheidung. Sie ist nur dann existenzbedrohend, wenn die Menschen es vorziehen, Staat und Nation zu unhintergehbaren Instanzen zu erheben, anstatt konkret zu fragen, wie das Elend des Kapitalismus auf welcher Ebene auch immer überwunden werden kann.


Fußnoten:

[1] https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(19)31769-6/fulltext?dgcid=raven_jbs_etoc_email

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/europool/ticker/etuk0001.html

[3] https://www.forces.net/news/brexit/operation-redfold-military-nerve-centre-ready-no-deal-brexit

9. September 2019


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