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HERRSCHAFT/1861: SPD Berlin - ausschnupfen und Tuch wechseln ... (SB)



Ich bin Berlinerin, und als Berlinerin liebe ich meine Stadt. Wenn es jetzt darum geht, auch ein Stück weit zu sagen, ich bin bereit, diese Verantwortung zu übernehmen, dann habe ich mich entschieden, ich bin bereit dazu.
Franziska Giffey [1]

In einer Zeit, da politische Inhalte kaum noch zu zählen scheinen, Personalien dafür um so mehr, haben sogenannte HoffnungsträgerInnen Hochkonjunktur. Das gilt natürlich in besonderem Maße für die dem Abgrund entgegentaumelnde SPD, die verzweifelt Ausschau nach Rettung kraft einer Lichtgestalt hält, die auf wundersame Weise alles richtig macht, bei der Wählerschaft punkten kann und die Partei euphorisiert. Nicht nur im Bund, auch auf Landesebene in Berlin rutschen die Sozialdemokraten ab. Sie geben in der rot-rot-grünen Koalition zwar noch den Platzhirsch und stellen den Regierenden Bürgermeister, sind aber in Umfragen inzwischen fast 10 Prozent hinter die Grünen und auch hinter Die Linke zurückgefallen. Da tut ein personeller Befreiungsschlag not, der zwar nicht über Nacht, aber letztlich in einem internen Zirkel ausgebraten wurde. So geht innerparteiliche Demokratie, mag sich die Basis auch noch so wundern und der linke Flügel rumoren. Franziska Giffey hat sich im Machtkampf durchgesetzt und soll den Karren aus dem Dreck ziehen.

So soll die personelle Wachablösung im einzelnen aussehen, die dem Vernehmen nach in einem ausgewählten Kreis von Bezirkschefs abgesprochen wurde, an dem auch Michael Müller, Franziska Giffey und Raed Saleh teilnahmen. Der Regierende Bürgermeister und SPD-Landeschef Müller verzichtet auf eine Wiederwahl zum Berliner Parteichef auf dem Landesparteitag im Mai und will auch nicht wieder als SPD-Spitzenkandidat für die nächste Abgeordnetenhauswahl kandidieren. Der Landesverband der Sozialdemokraten soll ab Mai von einer Doppelspitze geführt werden, der die Bundesfamilienministerin Franziska Giffey und der SPD-Fraktionschef Raed Saleh angehören. Spitzenkandidatin für die nächste Berliner Wahl im Herbst 2021 soll Giffey werden.

Da 2021 auch im Bund gewählt wird, könnte Müller in den Bundestag wechseln, wofür ihm womöglich vorab Platz eins in der SPD-Landesliste garantiert würde. Diesen Vorzugsplatz dürfte allerdings auch der Juso-Vorsitzende und stellvertretende Parteivorsitzende Kevin Kühnert anstreben, so daß noch gar nichts entscheiden ist, was auch Müller bestätigt: "Ich bleibe Regierender Bürgermeister. Alles andere wird zu gegebener Zeit entschieden." Offen ist zudem, wann die Berliner Sozialdemokraten über die Spitzenkandidatur entscheiden - in diesem Herbst oder erst im Frühjahr 2021. Möglicherweise wird der Termin vorgezogen, worauf unter anderem Müller pochen könnte, der auf der Hut sein muß, daß sein Teil des Deals nicht in Vergessenheit gerät.

Ob über die Spitzenkandidatur auf einem SPD-Landesparteitag oder per Mitgliederentscheid entschieden wird, muß auch noch geklärt werden. Die Partei brauche Geschlossenheit, argumentieren Kritiker einer Basisbefragung, zu der es kaum kommen wird, zumal eine entscheidende personelle Weichenstellung hinter verschlossenen Türen ausgehandelt worden ist. Nachdem die Wahl der neuen Vorsitzenden auf Bundesebene, Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken, den ersehnten Schub in den Umfragen verfehlt hat, dürften die sozialdemokratischen Granden die in opportunistischem Kalkül entdeckte innerparteiliche Demokratie umgehend wieder in den Keller sperren und fortan auf Personalpolitik von oben setzen.

Michael Müller hat sich in einem Brief an alle Mitglieder der Berliner SPD verabschiedet. Nach vielen Gesprächen in den letzten Wochen sei deutlich geworden, daß sich nicht nur auf Bundesebene, sondern auch in Berlin viele Genossinnen und Genossen neue Impulse wünschen. Seine zwölfjährige Arbeit als Landesvorsitzender habe ihm viel Spaß gemacht, ihn aber auch gefordert. "Ich glaube, dass es gut ist, wenn jetzt neue Köpfe Verantwortung übernehmen und unsere Partei nach dem nächsten Landesparteitag im Mai führen. Darum werde ich nicht mehr für diese Funktion kandidieren." Seine Arbeit als Regierender Bürgermeister werde er jedoch fortsetzen und mit dem Vorsitz der Ministerpräsidentenkonferenz "in diesem und dem nächsten Jahr Impulse über Berlin hinaus setzen". [2]

In der Landes-SPD sind nicht alle begeistert, und insbesondere auf dem linken Flügel wird Unmut laut, daß er im designierten Führungsduo nicht repräsentiert ist. Dieses gehört den konservativen Sozialdemokraten an, Saleh sei "kein linkes Korrektiv" zu Giffey, heißt es in Parteikreisen. Viele Parteimitglieder sind geradezu entgeistert angesichts der Art und Weise, wie der Wechsel kommuniziert wurde. Bereits am Morgen hatten der RBB und "Bild" darüber berichtet, ehe dann auf einer Pressekonferenz die Entscheidung offiziell bekanntgegeben wurde. Da jedoch niemand untergehen will, brauchen alle Giffey, um die Chance zu wahren, in Berlin stärkste Kraft zu bleiben.

Für Franziska Giffey fing das Jahr schlecht an. Kaum hatte sie den Plagiatsverdacht hinsichtlich ihrer Dissertation abgewettert, als die Affäre um ihren Mann folgte. Der beim Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales beschäftigte Veterinärmediziner hatte eine Kongreßteilnahme im Ausland als Dienstzeit abgerechnet, war aber tatsächlich auf Urlaubsreise. In einem Disziplinarverfahren war er daraufhin dienstlich herabgestuft worden. Michael Müller hatte kürzlich versucht, den Angriff Giffeys abzuwehren, indem er fallen ließ, daß ihr die politische Affäre um ihren Mann schaden werde. Damit hatte er jedoch ein Eigentor geschossen, da die Affäre Giffey keineswegs schadete, die Bemerkung dazu ihm aber schon, da er längst in Ungnade gefallen war. [3]

Die 41jährige gebürtige Brandenburgerin befindet sich auf einem Höhenflug, der augenscheinlich ihre politischen Instinkte beflügelt. Sie trat 2007 der SPD bei und war Bezirksbürgermeisterin in Berlin-Neukölln, wo sie ihren Amtsvorgänger, den Parteirechtsaußen Heinz Buschkowsky, als ihr politisches Vorbild bezeichnete. Seit 2018 ist sie Bundesfamilienministerin im Kabinett Merkel und will das ungeachtet ihrer Pläne auf Landesebene auch bleiben: "Ich sehe nicht, warum die Übernahme oder die Kandidatur des Amtes einer Co-Vorsitzenden eines Landesverbandes der Tätigkeit einer Bundesministerin aus grundsätzlichen Gründen entgegenstehen sollte." Sie habe in ihrem Ministerium viel vor und werde ihre Arbeit deshalb auch fortführen.

Müssen die Koalitionspartner und namentlich die Linksfraktion dennoch fürchten, daß die ambitionierten, aber fragilen rot-rot-grünen Berliner Vorstöße vor allem in der Mietenpolitik durch einen Kurswechsel der SPD auf der Strecke bleiben? Die Linken in Berlin rechnen nach Angaben ihrer Landesvorsitzenden Katina Schubert damit, daß die Koalition mit Michael Müller an der Spitze bis zur Wahl 2021 weiterarbeitet: "Müller ist Regierender Bürgermeister von Berlin, für fünf Jahre gewählt, von uns mit, und ich gehe mal davon aus, dass er diese Legislaturperiode sein Amt weiter ausführt", so Schubert. Es gebe keinen Automatismus, daß eine neue SPD-Vorsitzende auch Regierende Bürgermeisterin sein müsse. Die Koalition stehe stabil und werde in den verbleibenden 18 Monaten noch manches auf den Weg bringen. Die Bürgermeisterin und Wirtschaftssenatorin Ramona Pop von den Grünen spricht von einer Führungsfrage der SPD. Helfe diese, die Wogen innerhalb der SPD zu glätten, sei es gut für die gemeinsame Regierung. Ihre eigene Fraktion werde auf Grundlage des Koalitionsvertrages weiter gut und professionell mit den Partnern zusammenarbeiten.

Aus der Opposition erklärt der CDU-Vorsitzende Kai Wegner süffisant: "Es wird interessant zu beobachten sein, ob Frau Giffey jetzt die SPD verändert oder ob die SPD Frau Giffey verändern wird." Sebastian Czaja, Fraktionschef der FDP, kommentiert: "Die Berliner SPD muss nun zeigen, ob der mögliche Wechsel von Müller zu Giffey nur eine Personalrochade ist oder der Sozialdemokratie die Perspektive öffnet, das schwierige Verhältnis zu den Koalitionspartnern zu überwinden und im Senat wieder Führungsverantwortung zu übernehmen." [4]

Giffey will demonstrieren, daß die SPD mit ihr noch Wahlen gewinnen kann. Sie profitiert zum einen davon, daß abgesehen von Übriggebliebenen wie Stephan Weil in Niedersachsen potentielle innerparteiliche Konkurrenz von der bundespolitischen Bildfläche verschwunden ist. Martin Schulz fristet im Bundestag ein Dasein als Abgeordneter in der zweiten Reihe, Andrea Nahles hat sich aus dem politischen Geschäft zurückgezogen. Katarina Barley ist in Brüssel, Malu Dreyer will nicht aus Rheinland-Pfalz auf die Bundesebene wechseln, Manuela Schwesig bleibt, auch krankheitsbedingt, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern.

Daß Giffey wie eine künftige Spitzenkandidatin auftritt, hängt andererseits mit ihrem rasanten Aufstieg aus der Berliner Bezirkspolitik in das Ministeramt zusammen, den sie nicht zuletzt einer robusten Frohnatur und spätestens in Neukölln erworbenen Durchsetzungsfähigkeit verdankt. Die naheliegende Frage, warum sie perspektivisch aus den Höhen der Bundespolitik auf die Berliner Landespolitik umschwenkt, läßt sich rasch beantworten. Ihr ist bewußt, daß sie maximal bis Herbst 2021 Bundesministerin bleiben kann. Nach der Bundestagswahl wird die SPD eher keine Minister in eine Regierung entsenden können. Während ihre Chance also im Bund nach dem Herbst 2021 allenfalls theoretisch bestünde, ist sie in Berlin durchaus real. Wenn sie im kommenden Jahr Regierende Bürgermeisterin werden will, kann sie nicht zugleich SPD-Kanzlerkandidatin sein. Obgleich eine sozialdemokratische Kandidatin 2021 im Bund nur verlieren kann, verhielte sich das 2025 womöglich anders, sofern Giffey zuvor vier Jahre lang eine gute Figur auf Berliner Landesebene gemacht hat.

Ob Giffey den Trübsinn der Sozialdemokraten, unter denen sie seit geraumer Zeit wie ein Wundermittel zur Heilung aller Leiden gehandelt wird, tatsächlich vertreiben kann? Ihre außergewöhnliche Begeisterungsfähigkeit für die eigene politische Leistung wird allenfalls von jener für die Hauptstadt übertroffen: "Berlin ist meine Stadt." Seit mehr als 20 Jahren lebe sie hier, die Stadt liege ihr sehr am Herzen, sie fühle sich vollkommen zu Hause. "Berlin ist einfach die tollste Stadt in Europa, ach was, in der Welt." Wie sehr muß es da schmerzen, wenn die eigene Partei in der Metropole so mies dasteht, und wie verlockend anmuten, eigenhändig dafür zu sorgen, daß die SPD und Franziska Giffey bekommen, was ihnen zusteht. Der Ikarus Martin Schulz ist Geschichte, die sich, so heißt es, nicht wiederholt. Und was die politischen Inhalte betrifft, ist nicht gänzlich auszuschließen, daß der Ernüchterung des berauschten Wahlvolks diesmal eine längere Halbwertzeit beschieden ist und die gärende Frage vertagt wird, welchen Gebrauchswert die Sozialdemokratie eigentlich noch hat.


Fußnoten:

[1] www.spiegel.de/politik/deutschland/franziska-giffey-und-die-spd-berlin-die-letzte-chance-a-205a9711-06a8-4f21-a2c1-49c8bfc51ebf

[2] www.tagesspiegel.de/berlin/giffey-soll-kuenftig-berlin-regieren-reaktionen-zum-rueckzug-von-michael-mueller/25484204.html

[3] www.zeit.de/politik/deutschland/2020-01/franziska-giffey-berlin-spd-vorsitz-buergermeisterin

[4] www.welt.de/regionales/berlin/article205438117/Schubert-SPD-Vorsitzender-muss-nicht-Buergermeister-sein.html

31. Januar 2020


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