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HERRSCHAFT/1880: Systemerneuerung - Druck von unten ... (SB)



Der Europäische Grüne Deal ist unsere neue
Wachstumsstrategie

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen [1]

Die Coronakrise hat zahllose Menschen schlagartig mit der grundsätzlichen Unwägbarkeit und Bedrohung ihrer Lebensverhältnisse unter der herrschenden Wirtschaftsweise konfrontiert. Die akute Notlage und Ausgrenzung, wie sie seit langem für die anwachsenden armen Bevölkerungsteile bittere Realität ihres Alltags ist, schreitet auch in den vom Abstieg heimgesuchten Mittelschichten voran. Angesichts einer weitreichenden Außerkraftsetzung vorgeblicher Sicherheitsgarantien in Zeiten der Pandemie ist nicht auszuschließen, daß die erhoffte Rückkehr zur Normalität nicht nur an Glaubwürdigkeit verliert, sondern in zunehmendem Maße der Überzeugung weicht, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse tiefgreifend verändert werden müssen. Um zu verhindern, daß eine massenhafte Bewegung von unten zusammenwächst, erstarkt und sich radikalisiert, womöglich sogar einen Entwurf von Ökosozialismus auf die Tagesordnung setzt, suchen einflußreiche Protagonisten und Profiteure der bestehenden Gesellschaftsordnung nach einem neuen Versprechen, das Widerstand und Aufbegehren befriedet und neutralisiert.

Ob Green New Deal oder European Green Deal - gemeint ist ein grüner Kapitalismus, der unter Fortschreibung der Macht- und Eigentumsverhältnisse auf Grundlage einer wachstumsgestützten Wirtschaft die ökonomische Krise überwinden, die Klimakatastrophe abwenden und Wohlstand für alle schaffen soll. Die gesellschaftlichen Widersprüche werden ausgeblendet, um sie innovativ fortzuschreiben, wofür ein Luftschloß vorgehalten werden muß, das ein weitreichendes Umsteuern postuliert und mit zahlreichen Konstruktionselementen und Zielsetzungen aus sozialen und ökologischen Bewegungen angereichert ist. Diese werden nicht etwa frontal blockiert und damit zu Widerspruch und Gegenwehr angespornt, sondern von oben her okkupiert, instrumentalisiert und beim Kreuzzug in die Katastrophe angeführt.

In diesem Sinne formiert sich ein breites Bündnis aus Politik, Wirtschaft und NGOs in Europa, das den strategischen Entwurf unterstützt, die von der Coronapandemie ausgelöste Wirtschaftskrise biete Gelegenheit zu einer konstruktiven Zäsur, einem Neustart der Wirtschaft in den europäischen Ländern unter grünem Vorzeichen. "Die Europäische Union muss ein neues Wohlstandsmodell entwickeln", verlangt eine Koalition aus 180 europäischen Politikern, Unternehmensbossen und Verantwortlichen großer Nichtregierungsorganisationen. Dazu zählen die Umweltminister aus Italien, Spanien, Frankreich, Luxemburg, Österreich, Schweden wie auch die Deutsche Svenja Schulze und viele EU-Abgeordnete nicht nur aus der Fraktion der Grünen. Mit von der Partie sind Generaldirektoren von Großunternehmen wie Ikea, Renault, EON oder Suez, dem weltweit größten Wasserkonzern, sowie Vertreter von Umweltschutzeinrichtungen, darunter die Französin Laurence Tubiana, Leiterin der European Climate Foundation und Chefarchitektin des Pariser Klimaabkommens von 2015.

Dem Credo dieser versammelten Prominenz zufolge bedarf es massiver Investitionen in ein klimafreundlicheres und zukunftsträchtigeres Modell ganz im Geiste des Green Deal, den Ursula von der Leyen für die Europäische Union plant. Der Appell listet ambitionierte Maßnahmen auf: "Der Umbau hin zu einer Kohlenstoff-neutralen Wirtschaft, zu einer nachhaltigeren Landwirtschaft und der Schutz der Artenvielfalt bergen das Potenzial, Arbeitsplätze und Wohlstand zu schaffen sowie die Lebensqualität der Bürger zu verbessern. Damit können wir widerstandsfähigere Gesellschaften aufbauen."

Die Unterzeichnenden werben für den Aufbau einer europäischen Allianz, die Pläne für die ökologische Wende entwickelt und deren Umsetzung unterstützt. Insbesondere in Frankreich schießen derzeit vielerorts Initiativen hervor, welche die aktuelle Krise zu einem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umdenken nutzen wollen. Ende März brachten Gewerkschaften, Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen eine Petition auf den Weg, die unter anderem ein bedingungsloses Grundeinkommen fordert und bereits mehr als 110.000 Unterstützer fand. Anfang April lancierten 60 Abgeordnete der Pariser Nationalversammlung die Online-Plattform "Le jour d'après" (Der Tag danach), auf der Vorschläge für das Leben von morgen eingebracht werden können. Binnen zehn Tagen gingen über 4.000 Beiträge ein.

Wo mit vollmundigen Visionen gehandelt wird, darf natürlich auch Emmanuel Macron nicht fehlen, der bei seiner jüngsten Ansprache an die Nation erste Leitlinien vorgab: "Wir brauchen eine langfristig angelegte Strategie, die uns ermöglicht, den CO2-Ausstoß geplant zu reduzieren und Vorsorge und Widerstandsfähigkeit zu stärken. Nur so sind wir für künftige Krisen gewappnet." Hatte der Präsident der Coronapandemie zunächst den Krieg erklärt, gab er sich nun ungewohnt einsichtig und forderte, ideologische Trampelpfade zu verlassen, wobei er den Aufruf nicht nur an seine Landsleute, sondern ganz explizit auch an sich selbst richtete. [2] Wie Macron versucht, sich kurzerhand neu zu erfinden, um der Sturmflut anbrandenden Volkszorns zu enteilen und das Heft in der Hand zu behalten, soll der grüne Kapitalismus das katastrophale Scheitern seines fossilistischen Zwillingsbruders durch ein neues Heilsversprechen in einen Aufbruch ummünzen.

Den Vogel hatte die neue EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen abgeschossen, als sie nur elf Tage nach ihrem Amtsantritt im Dezember 2019 einen Green Deal vorstellte, der Europa bis 2050 klimaneutral machen soll. "Jemand hat mal gesagt: Das ist Europas Mann-auf-dem-Mond-Moment", verkündete sie in Brüssel, ohne bei diesem historischen Kalauer in Rechnung zu stellen, was seither aus der amerikanischen Mondlandung geworden ist. "Wir haben noch nicht alle Antworten. Wir sind sehr ehrgeizig, aber wir werden auch sehr sorgsam alle Auswirkungen und die nächsten Schritte prüfen", ließ sie durch die Blume anklingen, auf welch tönernen politischen und finanziellen Füßen dieses Vorhaben steht, von seiner unterstellten Wirksamkeit mit Blick auf die Bewältigung der Wirtschaftskrise und die Eindämmung der Klimakatastrophe ganz zu schweigen.

Zuvor hatte die neue EU-Kommission den Green Deal beschlossen, ein umfangreiches Gesetzgebungsprogramm mit dem Ziel eines "klimaneutralen" Europas bis 2050. Konkrete Vorlagen sollen 2020 und 2021 folgen und dann von den EU-Staaten und dem EU-Parlament beraten werden. Geplant ist ein Umbau von Energieversorgung, Industrie, Verkehr und Landwirtschaft. Von der Leyen sprach von einem Fahrplan zum Handeln, der 50 Aktionen für ein klima- und umweltfreundliches Europa enthalte. Es gehe um die Senkung der Treibhausgase, aber in gleichem Maße auch um die Schaffung neuer Jobs. "Unser Ziel ist, unsere Wirtschaft mit unserem Planeten zu versöhnen und dafür zu sorgen, dass es für unsere (sic!) Menschen funktioniert." Das alte Wachstumsmodell, das auf fossilen Energien und Verschmutzung gründe, habe sich überlebt. Gefragt sei nun eine Strategie "für ein Wachstum, das mehr zurückgibt, als es wegnimmt". Entscheidend sei, daß beim Wandel niemand im Stich und niemand im Unklaren gelassen werde.

Eine wichtige Rolle soll ein "Just Transition"-Fonds für einen sozial gerechten Strukturwandel spielen. Dabei sollen 100 Milliarden Euro jährlich an Investitionen für die am stärksten gefährdeten Sektoren und Regionen mobilisiert werden, um tiefgreifende Transformationsprozesse anzustoßen. Insgesamt bezifferte die EU-Kommission die nötigen zusätzlichen Investitionen mit 260 Milliarden Euro jährlich, wobei das Geld sowohl von öffentlicher als auch privater Seite kommen soll.

Zentraler Punkt des Plans ist ein Klimagesetz, mit dem das Ziel für 2050 "unumkehrbar" festgeschrieben wird. Das neue Ziel für 2030 soll im Herbst folgen. Die EU-Gesetze zur Energieeffizienz und zum Ausbau erneuerbarer Energien sollen den neuen Zielen angepaßt werden. Die europäische Industrie, die künftig schärfere Umweltauflagen erfüllen muß, soll mit einem "Carbon Border Mechanism" vor klimaschädlich produzierten Billigimporten geschützt werden, möglicherweise mit Zöllen. Das Emissionshandelssystem soll ausgeweitet werden, was voraussichtlich das Fliegen und Schiffstransporte teurer macht. Eine moderne Kreislaufwirtschaft soll Müll und Verschmutzung vermeiden. Geplant sind zudem neue Strategien für saubere Luft und sauberes Wasser und einen Schutz der Artenvielfalt, eine Anpassung der Landwirtschaftspolitik und eine massive Aufforstung.

Das soll Musik in den Ohren der europäischen Bevölkerungen sein, denen die Krisen über den Kopf wachsen, insbesondere aber all jener Menschen, die sich mit einem "Immerhin" beschwichtigen lassen, als lösche ein wenig Wasser den weltweiten Brand. Das Vorgehen erinnert fatal an den umstrittenen Juncker-Plan, dessen gewaltiges Volumen sich nur mit reichlich Zahlenmagie darstellen ließ. Dennoch spräche im Prinzip nichts gegen einen neuen, noch mutigeren Ansatz, bräche er denn mit der profitgetriebenen Wachstumsstrategie. Das ist jedoch am allerwenigsten vorgesehen. Interessierten sich die Eliten Europas wirklich für die globale Erwärmung, sprächen sie nicht von Klimaneutralität, sondern von Klimagerechtigkeit. Nur wer von einer relationalen und kritischen Betrachtung der historischen Akkumulationsprozesse ausgeht, kann alternative Lebenssysteme hervorbringen.

Andernfalls setzt sich die koloniale Ausplünderung fort, in deren Verlauf die industrialisierten Ökonomien jahrhundertelang ihren monströsen ökologischen Fußabdruck hinterlassen haben, beuten die Rohstoffe verwertenden Megakonzerne der Energiewirtschaft, des Bergbaus und der Agroindustrie nunmehr im Zeichen des grünen Kapitalismus den globalen Süden weiterhin exzessiv aus und verwüsten Erde wie Klima. Die Idee eines unendlichen ökonomischen Wachstums auf einem Planeten mit begrenzten Sourcen mag allenfalls dann überzeugend anmuten, wenn man den Eliten angehört, die Ewigkeit an der eigenen Lebensspanne bemißt und überdies der vagen Hoffnung frönt, die ökonomischen und ökologischen Katastrophenszenarien ließen sich lange genug auf die restliche Menschheit umlasten.


Fußnoten:

[1] www.welt.de/politik/ausland/article204232270/Green-Deal-Von-der-Leyen-erklaert-Details-ihres-Klimaplans.html

[2] www.deutschlandfunk.de/lehren-aus-der-coronakrise-europaweiter-aufruf-zum.697.de.html

16. April 2020


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