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HERRSCHAFT/1885: Ende des Krieges - noch lange nicht ... (SB)



Der 8. Mai hat nicht das Potenzial zu einem Feiertag, weil er ein ambivalenter Tag ist. Für die KZ-Insassen ist er ein Tag der Befreiung gewesen. Aber es war auch ein Tag der absoluten Niederlage, ein Tag des Verlustes von großen Teilen Deutschlands und des Verlustes von Gestaltungsmöglichkeit.
Alexander Gauland (Fraktionsvorsitzender der AfD im Bundestag) [1]

Alexander Gauland hat mit seiner Aussage, der 8. Mai 1945 sei kein Tag der Befreiung, sondern der absoluten Niederlage gewesen, deutsche Vergangenheitsbewältigung auf den Punkt gebracht. Dabei ging es stets darum, einen Schlußstrich unter den gescheiterten Raubzug zu ziehen, um ungehindert den nächsten in Angriff zu nehmen. Gauland transportiert fort, was in nationalkonservativen Kreisen durchgängig präsent war, und unterstreicht als Mentor der AfD zugleich, wo die Partei steht. Er beklagt den Verlust an Gestaltungsmöglichkeiten durch das Ende des NS-Regimes und macht sich damit für eine rechtsextreme Variante deutschen Vormachtstrebens nach innen und außen stark.

Nicht die volle Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen, um mit ihr zu brechen und die Voraussetzungen einer grundlegend anderen gesellschaftlichen Entwicklung zu schaffen, sondern sie zu bewältigen, kann nur der Absicht ihrer Fortschreibung geschuldet sein, wie es denn auch in der Bundesrepublik geschah. Ungeachtet gewisser personeller Umbesetzungen dachte die nach wie vor herrschende Klasse nicht im Traum daran, Ausbeutung und Zurichtung, Expansion und Kriegsführung zu beenden, kurz, sich selbst abzuschaffen. Sie formierte sich im Kontext der modifizierten geopolitischen Konstellation neu und paßte ihre ideologische Unterfütterung entsprechend an, wobei die zentrale Marschrichtung unverändert nach Osten wies.

Das demokratisch garnierte Staatswesen übernahm nicht nur gewisse Seilschaften aus der Nazizeit, um den politischen und administrativen Bedarf zu decken, sondern setzte wesentliche Strukturelemente der zu sichernden Herrschaft und aufrechtzuerhaltenden staatlichen Ordnung fort. Um einen deutschen Neuanfang in Gestalt der Bundesrepublik zu simulieren, bedurfte es zwar umfänglicher Windungen und Wendungen, doch eine revolutionäre Umwälzung hatte nicht stattgefunden. Daher blieb "Nie wieder ...!" ein bloßes Lippenbekenntnis mit befristeter Laufzeit, da die Gründe für einen erneuten Rückgriff auf totalitären Zwang und Übergriff nie aus den gesellschaftlichen Verhältnissen verbannt worden waren. Daß sich zu verschärfter staatlicher Repression nach innen und Kriegsführung nach außen eine einflußreiche extreme Rechte gesellen würde, ist folglich kein Treppenwitz, sondern bittere Konsequenz nie wirklich unterbrochener deutscher Geschichte.

Um ein Zeichen zu setzen, hatte die streitbare Holocaust-Überlebende und Vorsitzende des Auschwitz-Komitees Deutschland, Esther Bejarano, im Januar einen offenen Brief an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der Aufforderung geschrieben, den 8. Mai als Tag des Kriegsendes zum gesetzlichen Feiertag zu machen. Daß dies zum 75. Jahrestag der Kapitulation der Wehrmacht geschehe, sei "überfällig seit sieben Jahrzehnten", schrieb sie. "Und es hilft vielleicht, endlich zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Niederschlagung des NS-Regimes." Eine entsprechende Petition, die auch von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) unterstützt wird, haben mehr als 80.000 Menschen unterschrieben. Politikerinnen vor allem der Grünen und der Linken unterstützen diesen Vorschlag, so etwa Katrin Göring-Eckardt oder Katja Kipping. Die Fraktionsvorsitzende der Grünen wünschte sich diesen Feiertag als einen bleibenden "Pflock in der deutschen Erinnerungskultur", und die Linken-Vorsitzende erklärte: "Um eine Verbindung mit diesem Datum in kommenden Generationen zu erhalten, sollte der Tag der Befreiung als ein besonderer Tag im Bewusstsein verankert werden."

In Berlin ist der 8. Mai in diesem Jahr einmalig ein Feiertag. In der Berliner rot-rot-grünen Koalition hatte sich vor allem Die Linke dafür eingesetzt, den 8. Mai zu einem dauerhaften Berliner Feiertag zu machen, als ein weiterer Berliner Feiertag beschlossen werden sollte. Doch die Koalition entschied sich dann für den 8. März, den internationalen Frauentag. Als Kompromiß wurde beschlossen, den 75. Jahrestag des Kriegsendes als "Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus" zum einmaligen Feiertag in Berlin zu machen. [2]

Gauland wies mit der eingangs zitierten Begründung die Forderung entschieden zurück, wobei er hinzufügte, man könne den 8. Mai nicht "zum Glückstag für Deutschland machen". Zwar gebe es Positives am 8. Mai, "aber die in Berlin vergewaltigten Frauen werden das ganz anders sehen als der KZ-Insasse". Auf journalistische Nachfrage, was er mit der verlorenen Gestaltungsmöglichkeit meine, erklärte Gauland: "Wir haben uns nach der Übernahme der Regierung durch die vier Mächte nicht mehr selbst regiert." Im übrigen würde er zu den Feierlichkeiten am 9. Mai in Rußland "unter normalen Umständen" auch nicht kommen. "Der 9. Mai ist der Tag des Sieges der Sowjetunion bzw. Russlands. Es ist ihr Freudentag. Ein Deutscher hat dabei nichts verloren", so der 79jährige. [3] "Dass der 8. Mai ambivalent gesehen wird, das ist auch die Position der Partei", bekräftigte AfD-Pressesprecher Bastian Behrens. Denn dieser Tag stehe nicht nur für das Ende der Herrschaft der Nationalsozialisten, sondern auch für den Verlust eines Teils der deutschen Staatsgebiete und für "massive Verbrechen an der deutschen Zivilbevölkerung".

Wie nicht anders zu erwarten löste Gaulands Einlassung einen Sturm der Entrüstung aus. Diese Betrachtung des 8. Mai 1945 finde man häufig unter Neonazis, so der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster. "Damit sollen die Deutschen vor allem als Opfer dargestellt werden. Ich empfinde das als geschichtsverzerrende Relativierung der NS-Verbrechen und verantwortungslos." "Der 8. Mai 1945 steht für das Ende des 2. Weltkriegs, den Sieg über den Naziterror & die Befreiung der deutschen Konzentrationslager", twitterte der Grünen-Politiker Cem Özdemir. Wer hierin eine absolute Niederlage sehe, stehe auf der falschen Seite der Barrikade. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Linken im Bundestag, Jan Korte, sagte: "Wer die Kapitulation Nazideutschlands noch heute allen Ernstes als Niederlage bezeichnet, zeigt eindeutig, dass er sich in der Tradition von Faschisten versteht." Und SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil befand, eine der wichtigsten Aufgaben der Demokraten sei heute, daß Menschen wie Gauland in Deutschland nie wieder Gestaltungsmöglichkeiten bekämen.

In Regierungskreisen der Bundesrepublik war der Jahrestag der Kapitulation lange Zeit kein erwähnenswertes Thema. Dies währte bis zum 8. Mai 1970, an dem die Bundesregierung mit Willy Brandt zum ersten Mal überhaupt des Kriegsendes gedachte. Damals versuchte die CDU/CSU-Fraktion, den Auftritt des Kanzlers unter dem Vorwand zu verhindern, man feiere Niederlagen nicht. Gauland, der viele Jahre am rechten Rand der CDU Karriere gemacht und seine Gesinnung publiziert hatte, ehe er die AfD mitbegründete, steht also durchaus in einer Tradition, die er aufgegriffen und zugespitzt hat. Mit Äußerungen zu erinnerungspolitischen Themen haben führende AfD-Politiker immer wieder gezielt provoziert, wie etwa die Galionsfigur des "Flügels", Björn Höcke, der das Holocaust-Mahnmal als "Denkmal der Schande" bezeichnete. Auch bedankte er sich bei Rußland gerne für 1762, 1813 und 1989, aber nie für 1945. Gauland selbst stand 2018 wegen des "Vogelschiß"-Skandals im Kreuzfeuer heftiger Kritik.

Wenn der Ehrenvorsitzende und ideologische Stratege der AfD auf die beschriebene Weise zum 8. Mai 1945 Stellung nimmt, ist das weder eine unbedachte Äußerung noch ein Ausrutscher. Er nimmt die Gelegenheit wahr, vom Leder zu ziehen, um den Kurs seiner Partei zu justieren und ihr die angesichts der Coronakrise schwindende Aufmerksamkeit wiederzubeschaffen. Obgleich Gauland als Repräsentant der nationalkonservativen Strömung in der AfD gilt, trug er im Zuge der Ausbootung Bernd Luckes und Frauke Petrys maßgeblich zur Rechtsdrift der Partei bei, indem er die Tür zum völkischen "Flügel" stets offenhielt. Er opponierte gegen alle Versuche, den "Flügel" zu kappen, und setzt nicht zuletzt auf die AfD als Bewegungspartei, die das rechtsextremistische Potential auf der Straße als Drohkulisse und Machtinstrument vorhält. So formte er die Partei maßgeblich zum legalistischen Werkzeug eines rechtsextremen Aufbruchs, der sich weder von den bürgerlichen Parteien einhegen noch in eine bedeutungslose extremistische Nischenexistenz abdrängen läßt.

Gauland kalkuliert mit dem heftigen Gegenwind, den seine Provokationen entfachen, um mit der AfD erfolgreich im Sturm zu kreuzen, deren wesentliche Stärke in den Augen ihrer Anhängerschaft die Opposition gegen das angebliche Meinungsdiktat des Establishments ist. Daß Deutschland am 8. Mai 1945 eine Niederlage bezogen hat, die es nicht zu feiern, sondern wettzumachen gilt, drängt als revanchistische Abrechnung mit jeglichen Feindbildern, an denen es der extremen Rechten am allerwenigsten mangelt, längst weit über deren Zirkel in breitere Kreise der von Abstiegsängsten heimgesuchten Bevölkerungsteile vor. Und das um so mehr, als die Durchsetzung deutscher Vorherrschaftsansprüche, ob mit ökonomischen, politischen oder militärischen Mitteln, auch in der Bundesrepublik zur Staatsräson avanciert, doch die Verteilung der Beute namentlich in Krisenzeiten so sehr zu wünschen übrigläßt, daß der rechtsextreme Marschtritt mit Macht an die Fleischtöpfe drängt, um nach seinen Maßgaben aufzuräumen und zu diktieren, wer satt werden oder verhungern, überleben oder zugrunde gehen soll.


Fußnoten:

[1] www.zeit.de/politik/deutschland/2020-05/afd-fraktionschef-alexander-gauland-relativierung-ns-verbrechen

[2] www.faz.net/aktuell/politik/inland/gauland-zum-8-mai-befreiung-oder-tag-der-absoluten-niederlage-16756628.html

[3] www.de.sputniknews.com/deutschland/20200506327043332-gaulan-erklaert-9-mai-worte/

8. Mai 2020


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