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HERRSCHAFT/1898: USA - Ausbau der Gesinnungspolitik ... (SB)



Jetzt im Moment sehen wir nicht so dieses Versöhnende, daß man irgendwie versucht, sich irgendwo in der Mitte zu treffen, daß man sagt, wir wollen ein Land sein, der melting pot, (...), sondern im Moment sind es eher nicht die Reformer in der schwarzen Bewegung, sondern eher die Revolutionäre, die sozusagen wirklich sagen, wir lehnen das ab (...)
Dominik Wullers - Zur Diskussion im Deutschlandfunk am 3. Juni 2020 [1]

In dem landesweiten, seit seinem Beginn am 26. Mai in Minneapolis anhaltenden Aufstand in den USA kulminieren mehrere Krisen zu einer Form der zivilen Erhebung, die selbst das Ausmaß der sogenannten Rassenkriege und der Bürgerrechtsdemonstrationen der 1960er Jahre überschreitet. Weit über 100.000 Todesopfer und 40 Millionen Arbeitslose sind das Ergebnis der Coronapandemie, die das Mißmanagement im Gesundheitswesen und bei der Seuchenprävention schonungslos offengelegt hat. Trumps Ehrgeiz, stets an der Spitze welchen Rankings auch immer zu stehen, hat bestens funktioniert - kein Land der Welt verfügt über mehr COVID-19-Infizierte und -Todesopfer als dasjenige, was dieser Präsident wieder groß machen will. "Make America Great Again" - auf die Größe welcher USA sich Trump auch immer beziehen mag, er ist auf dem besten Wege, alle in Frage kommenden Referenzgrößen auf negative Weise in den Schatten zu stellen.

38 Millionen Menschen haben schon vor der Pandemie unter der Armutsgrenze gelebt und müssen häufiger hungern, was Donald Trump nicht davon abhält, das staatliche Nahrungsmittelhilfsprogramm SNAP drastisch zu kürzen. Es wird vom US-Agrarministerium betrieben, dessen Chef Sonny Perdue es für wichtiger hält, einen Großteil der Getreideernte für die Produktion von Agrosprit zu verwenden, als die eigene Bevölkerung in Zeiten anwachsender Not vor Hunger zu schützen. 32 Prozent der Menschen in den USA verfügen über keinerlei finanzielle Rücklagen, weitere 38 Prozent haben weniger als 1000 Dollar gespart. Damit sind mehr als zwei Drittel der Bevölkerung jedem Windhauch des Mangels und der Not schutzlos ausgeliefert, wie die vielen Familien belegen, die schlicht aufgrund eines medizinischen Notfalls obdachlos wurden, weil selbst Krankenversicherte die zusätzlich anfallenden Kosten häufig nicht schultern können.

Ob COVID-19, ökologische Zerstörung, soziale Verelendung, stets sind nichtweiße Minderheiten überproportional betroffen, wobei die schlechte sozialökonomische Lage der schwarzen Bevölkerung nur noch durch häufig in Reservaten lebende indigene Gruppen unterschritten wird. Das Coronavirus ist, zynisch formuliert, die Krönung des Trümmerhaufens, den der neoliberale Kapitalismus und die freie Marktwirtschaft hinterlassen haben. Der durch die Ermordung George Floyds ausgelöste Aufstand richtet sich daher nicht nur gegen die endemisch gewordene Polizeigewalt und die sie flankierende Kultur der Straflosigkeit, sondern die sozialrassistische Unterdrückung aller überflüssig gemachten Menschen. Schwarze sind in besonderer Weise von polizeilichen Varianten des Lynchens betroffen, weil sie mit großer Mehrheit in elenden Verhältnissen leben und sich häufig nur mit informeller Arbeit wie etwa dem Straßenhandel mit illegalen Substanzen über Wasser halten können. Damit repräsentieren sie die der neoliberalen Arbeitsgesellschaft nicht nur entbehrliche, sondern ihren Geschäftsbetrieb störende Bevölkerung auf exemplarische Weise.

Weißer Rassismus und neoliberale Austeritätspolitik sind zwei Seiten einer Medaille zeitgemäßen Krisenmanagements, das wissen insbesondere die AktivistInnen aus linken, antifaschistischen, anarchistischen und autonomen Zusammenhängen. Sie waren an dieser sozialen Revolte, die die herrschenden Gewaltverhältnisse aus Sicht der davon Betroffenen adäquat zum Ausdruck bringt, von Anfang an beteiligt und greifen, wenn solche Interventionsstrategien ihrer jeweiligen Doktrin entsprechen, auch zu militanten Aktionsformen.

Als der US-Präsident am 31. Mai per Tweet ankündigte, er werde die Antifa als terroristische Gruppe einstufen lassen, griff er den Vorschlag einiger republikanischer Senatoren auf, die vor einem Jahr eine Initiative mit dem Ziel starteten, mehrere Antifa-Gruppen unter die Kategorie domestic terrorists zu fassen und mit dementsprechend schwerwiegenden Mitteln zu verfolgen. Da das FBI 2019 die Definition für domestic terrorism dahingehend verschärft hat, daß darunter alle Personen und Gruppen fallen, die "extremistische Ideologien politischer, religiöser, sozialer, ethnischer oder ökologischer Art verbreiten" [2], sind nicht mehr allein die Aktivitäten dieser Gruppen strafwürdig, sondern schon die von ihnen vertretenen Absichten und Ideologien.

Damit zielt Trump nicht von ungefähr auf diejenigen seiner KritikerInnen, die am entschiedensten die Überwindung der herrschenden Verhältnisse anstreben, anstatt sich mit der Forderung nach Reformen zu begnügen, die schon so oft fast nichts verändert oder die Ohnmacht sogar noch vertieft haben. Während vorwiegend von schwarzen AktivistInnen getragene Bewegungen wie Black Lives Matter für Befriedungsstrategien aus den Reihen der schwarzen Politibourgeoisie oder der Partei der Demokraten empfänglich sein können, sind Organisationen, die wie die früheren Black Panther ein klassenkämpferisches Anliegen verfolgen, in weit höherem Maße immun gegen Vereinnahmungsstrategien aus dem Lager der politischen Gegner.

Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus wurden in den USA stets mit großer Intensität verfolgt und sind heute eher Randerscheinungen, als daß sie über eine Massenbasis verfügten wie zu Zeiten, als sich die internationalistische Linke noch im Aufwind befand. Den SachwalterInnen des aktuellen Krisenmanagements dürfte dennoch bewußt sein, daß der spontane und ungeordnete Aufstand sich schnell in eine ihnen gefährlich werdende Rebellion verwandeln könnte, wenn das Gros der Menschen zu verstehen anfängt, daß sie unter diesem Regime keine Zukunft haben und auch eine Kultur der Hoffnung auf bessere Zeiten, mit denen Barack Obama für seine Präsidenschaft warb, nicht aus der Misere herausführt.

Wer jeden Tag vor Augen geführt bekommt, daß er in der von Leistungskonkurrenz und Produktivitätswachstum getriebenen Arbeitsgesellschaft keinen Platz hat, nicht weil es am Willen fehlte zu arbeiten, sondern Lohnarbeit nicht einmal in Form von Bullshit Jobs (David Graeber) in einem Maße verfügbar ist, die die soziale Reproduktion dieser Gesellschaft auf angemessene Weise sicherte, der neigt dazu, die Grenzen des Erlaubten aus schierer Verzweiflung zu überschreiten. Wer in innerstädtischen Elendsquartieren leben muß, wo die physische Existenz schon durch schlechtes Essen, verschimmelte Wohnungen und vergiftete Luft angegriffen wird, während die Gewalt des Kapitalverhältnisses in einem permanenten Kriegszustand auf den Straßen zutage tritt, könnte die Ohnmacht, die der Ruf "I Can't Breathe!" zum Ausdruck bringt, in tätigen Zorn verwandeln.

Werden die Alltagserfahrungen rassistischer Unterdrückung durch radikale Gesellschaftskritik mobil gemacht, dann erhalten sie Richtung und Wirkung in einem Ausmaße, das in der privilegierten Bourgeoisie Angst auslösen könnte. Wenn die qualvolle Wiederholung immer gleicher Ohnmachtserfahrungen zu der Erkenntnis führt, daß der Glaube an Recht und Gesetz in erster Linie die Macht derjenigen stärkt, die über die strukturelle und institutionelle Definitionshoheit der privatwirtschaftlichen Eigentumsordnung gebieten, wenn die Hoffnung auf Gerechtigkeit an den eisernen Wänden der mit den Verlierern im Überlebenskampf überbelegten Knäste zerschellen, dann könnte linke Herrschafts- und Kapitalismuskritik auf ungeahnte Weise um sich greifen und wirkmächtig werden.

Das gilt in den USA auch deshalb, weil der Weg in schlagkräftige, rechtsradikaler Ideologie verpflichtete Organisationen meist Weißen vorbehalten bleibt. Schwarzen AktivistInnen, die erkannt haben, daß die Partei der Demokraten, die im Duopol US-amerikanischer Herrschaftsicherung als einzige Alternative übrigbleibt, keine Option für ihren Befreiungskampf ist, die sich aber auch nicht an religiösen Organisationen wie denen der Black Muslims oder Gruppen beteiligen wollen, die einen schwarzen Separatismus vertreten, bleibt nicht viel mehr, als sich in der radikalen, antirassistischen Linken zu organisieren. Und dafür scheint es angesichts der starken Beteiligung dieser Gruppen an den Demonstrationen in Solidarität mit George Floyd viel Gelegenheit zu geben.

Gleichermaßen enspricht es dem patriarchalen Impetus der hegemonialen Geld- und Funktionseliten, alle Anzeichen, der spontane Aufstand könne sich zu einer antagonistischen Massenbewegung weiterentwickeln, mit großer Härte und offener Gewalt entgegenzutreten. Das Arsenal des Antiterrorkampfes war stets im Kern gegen den sozialen Aufstand gerichtet, so daß die radikale Linke vorrangiges Ziel seiner Anwendung ist, selbst wenn die physische Gewalt rechtsradikaler Gruppen und Attentäter in den USA alle linksradikale Militanz weit in den Schatten stellt. Letztere sind im Zweifelsfall stets auf der Seite weißer Suprematie, wie auch ein Trump weiß, wenn er sich des Rückhaltes rechter Bürgerwehren und Milizen für den Ernstfall versichert.

"Total Domination" - nichts Geringeres als den Einsatz so gut wie aller Mittel des staatlichen Gewaltapparates fordert Trump zur Verteidigung seiner Präsidentschaft und Klasse bei einer Konferenzschaltung mit den Gouverneuren der Bundesstaaten ein [3]. Er gießt Öl in die Flammen des Feuers, um es schließlich mit einem ultimativen Beweis seiner Macht löschen zu können, der kaum anders als die Einführung diktatorischer Vollmachten vorstellbar erscheint. Auf die Permanenz des gesellschaftlichen Ausnahmezustandes hat die radikale Linke in den USA schon vor der Coronapandemie hingewiesen. In einem Land, wo sozialökologischer Aktivismus wie etwa der Einbruch in den Stall einer Tierfabrik zwecks Dokumentation dort herrschender Mißstände viele Jahre Haft zur Folge haben kann, in dem Schußwaffen schnell gezogen und Verdächtige präventiv erschossen werden, dessen Bevölkerung gegen linke Umtriebe und sozialrevolutionäre Ambitionen kulturindustriell weit besser geimpft ist als gegen die nächste Epidemie, müssen die AktivistInnen sozialer Gegenbewegungen schon aus Selbstschutz auf das Schlimmste gefaßt sein.


Fußnoten:

[1] https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2020/06/03/zuendelnder_praesident_brennende_strassen_usa_zwischen_dlf_20200603_1915_ba198eeb.mp3

[2] https://psmag.com/ideas/what-would-it-mean-if-trump-labeled-antifa-as-a-terrorist-organization?fbclid=IwAR1LdBg9kVzRhxN85PnVRJ6VNtZ1KDGakW9-OtzkOhCbQJbErB60WXm9aFk

[3] https://www.counterpunch.org/2020/06/03/total-domination-popular-rebellion-in-the-shadow-of-trumpism-fascism/

4. Juni 2020


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