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HERRSCHAFT/1914: Grundwidersprüche ... (SB)



Kühe, Hühner, Schweine und Pferde haben offenkundig nichts gemeinsam. Sie gehören nicht derselben Art an. Sie haben unterschiedliche Kulturen, soziale Beziehungen, Kommunikationsmethoden, Mittel sozialer Organisation usw. Aber etwas ganz Bestimmtes verbindet sie doch miteinander. Sie sind seit langem Mitglieder der gleichen Klasse. Sie arbeiten für Menschen, die einen Mehrwert aus ihrer Arbeit ziehen zum Zwecke des Gebrauchs, des Tausches und/oder der Akkumulation. Sie sind Eigentum, das ge- und verkauft wird. Sie werden nicht entlohnt. Es handelt sich um Tiere, die häufig zusammenarbeiten müssen, um die ihnen abverlangten Funktionen und Pflichten erfüllen zu können. Aber sie können die Arbeit auch zusammen verweigern. Das ist äußerst bedeutsam, denn diese kollektiven Aktionen, während der Arbeit und gegen sie, verkörpern eine von ihnen selbst geschaffene Klassenbeziehung. Diese Tiere sind eine arbeitende Klasse, der Menschen sich im Verlauf der Geschichte immer wieder angeschlossen haben. Und diese Zugehörigkeit hat sich auf SklavInnen, Frauen, Kinder und weitere erstreckt.
Jason Hribal: Animals are Part of the Working Class Reviewed [1]

Tiere seien keine Sportgeräte, scheint nach dem Eklat beim Modernen Fünfkampf in Tokio allgemeiner Konsens zu sein. Wieso bedurfte diese Einsicht erst eines Vorfalls, bei dem die von der Situation sichtlich überforderte Reiterin Annika Schleu und ihre Trainerin Kim Raisner in den Mittelpunkt empörter Anwürfe gelangten? Weil das Traktieren eines unwilligen Pferdes mit der Gerte, wie im Fall des 22jährigen Hengstes Saint Boy, offenkundig macht, was als prinzipielles Problem des Springreitens seit jeher Anlass für Kritik ist: Die Pferde würden das vor ihnen aufgerichtete Hindernis eher umgehen und müssen erst daraufhin konditioniert werden, die auf ihrem Rücken sitzende Reiterin möglichst fehlerfrei durch den Parcours zu tragen.

Schon aus diesem Grund ist kaum vorstellbar, dass Mensch und Pferd eine solche Aufgabe ohne eindeutige hierarchische Zuweisung meistern, die in konkreten Zwangsverhältnissen hervortreten. Mensch oben, Pferd unten, Mensch dirigiert, Pferd gehorcht - nicht nur beim Springreiten, sondern den diversen Reitsportarten wird den Tieren eine Leistung abverlangt, die sie zu ausführenden Organen menschlichen Willens degradiert. Wie sehr von Tierliebe oder Freundschaft zwischen Mensch und Tier die Rede sein mag, liegt doch der Kern dieses Verhältnisses in einer prinzipiell gewalthaltigen Beziehung einseitigen Nutzens. In ihr lebt die Jahrtausende alte Geschichte des sprichwörtlichen Einspannens von Pferden für Transportzwecke und ihre Ausbeutung für mechanische Leistungen aller Art fort. Pferde waren und sind vor allem Mittel zum Zweck, ihre Arbeit in Krieg und Landwirtschaft, in Industrie und Verkehr wie in der Produktion von Fleisch konnte als kostenlose Externalität, da keine Entlohnung erforderlich war und die Transformation pflanzlichen Wachstums in tierliche Energie lediglich des Besitzes entsprechender Weideflächen bedurfte, in eine Produktivkraftentwicklung eingespeist werden, deren fossilistischer Höhenflug niemals ohne die Vorleistung von Tieren erbrachter Arbeit erreicht worden wäre.

Im modernen Fünfkampf werden die Pferde ausgelost, um die Befähigung der ReiterInnen, die mit ihrem Pferd erst 20 Minuten vor Beginn des Springreitens Kontakt aufnehmen können, zur Bewältigung einer Notlage im Gelände zu simulieren. Der Begründer der Olympischen Spiele, Pierre Coubertin, legte folgendes Szenario zugrunde, als er diese Sportart 1911 zur Austragung im nächsten Jahr in Stockholm beim Internationalen Olympischen Komitee durchsetzte: "Einem Meldereiter wird im feindlichen Gelände sein Pferd getötet, er verteidigt sich zunächst mit dem Degen, bahnt sich dann den weiteren Weg mit der Pistole, muss durch einen Fluss schwimmen und legt die letzte Strecke bis zum Ziel querfeldein laufend zurück." [2] Gefragt ist also Improvisationstalent unter dem Druck einer lebensgefährlichen Bedrohung, wie vor allem auf dem Gefechtsfeld der Fall. Sich in einer solchen Situation eines fremden Pferdes zu bedienen führt bis heute dazu, dass der ohnehin gegebene Objektstatus des Tieres auf die Spitze getrieben wird - die Unvertrautheit von Pferd und Reiterin soll deren Fähigkeit, ein Tier im Wortsinne zu beherrschen, unter Beweis stellen. Nicht erstaunlich ist denn auch, dass diese Disziplin bei den Olympischen Spielen ursprünglich fast nur von Soldaten und Polizisten ausgeübt wurde, während Frauen bis zum Jahr 2000 warten mussten, um sich in Sydney beim Pistolenschießen, Degenfechten, Schwimmen, Springreiten und Querfeldeinlauf bewähren zu dürfen.

Auch beim Vielseitigkeitsreiten, früher Military genannt, handelt es sich um eine Mehrkampfdisziplin ursprünglich militärischer Art, bei der die SportlerInnen Dressur, Geländeritt und Springen zu absolvieren haben. Ebenfalls in Tokio, allerdings 1964, befand sich mit Helena du Pont erstmals eine Frau in einem Eventing Team, so der englische Begriff für Vielseitigkeitsreiten. In dieser Disziplin treten Frauen und Männer in gemeinsamen Mannschaften an, ein Fortschritt, der nicht zuletzt auf dem Rücken der eigentlichen LeistungsträgerInnen, der Pferde, erlangt wurde. Das Einschläfern des 14jährigen kastrierten Hengstes Jet Set, der sich beim Geländeritt mit dem Schweizer Robin Godel einen Bänderriss zugezogen hatte, erlangte zwar nicht so viel Aufmerksamkeit wie der Eklat um die deutsche Reiterin, bekräftigt aber mit der Behauptung, die Entscheidung zur Euthanasie sei das Beste für das Tier, die kalte Logik tierlichen Verbrauchs.

Zweifellos verwahrten sich die meisten ReiterInnen gegen die Behauptung, dass ihrem Hobby oder Beruf ein Gewaltverhältnis zugrunde liegt, das sich nicht auf besonders ausgeprägte Formen der Tierquälerei begrenzen lässt. Was immer an Übereinstimmung oder Freundschaft mit dem jeweiligen Pferd gegeben sein mag, wird durch Menschen bezeugt. Tiere haben angeblich keine Stimme, doch wird genauer hingeschaut, dann besitzen Akte der Verweigerung wie derjenige von Saint Boy durchaus Aussagekraft. Sich einer Anweisung nicht zu fügen ist die einzige Möglichkeit, dem das eigene Leben kontrollierenden Menschen Zugeständnisse abzuringen. Sogenannte Nutztiere können sich auf verschiedenste Art verweigern und damit Verhandlungsspielräume eröffnen, die ihnen Belohnungen in Form von Futter oder eine weniger schmerzhafte Zurichtung verschafft. Sie können damit allerdings auch scheitern, indem sie als untauglich für den ihnen zugedachten Zweck eingestuft werden und schlimmstenfalls in der Schlachterei enden, wie im hochlukrativen Geschäft des Rennsportes mit Pferden nicht unüblich [3] [4].

Annika Schleu hat der Hass, der ihr in sozialen Netzwerken nach dem Vorfall entgegenschlug, so mitgenommen, dass selbst der Verlust der sicher geglaubten Goldmedaille dahinter zurücktrat [5]. Diese Reaktion von Teilen des Publikums kann kaum als etwas anderes verstanden werden denn als Versuch, das ganze Ausmaß des Problems nicht wahrhaben zu wollen. Beim sogenannten Pferdesport, der als Reitsport weit zutreffender benannt ist, weil die Rolle des Pferdes mit dem eines Sportgerätes nicht unzutreffend beschrieben ist, werden nichtmenschliche Tiere zu Leistungen genötigt, die sie, sei es in der Dressur, im Springreiten oder beim Geländeritt, von sich aus nicht erbrächten. Die mehrfache Weigerung von Saint Boy wurde im Fernsehkommentar nicht zufällig als Problem der Reiterin und nicht eines von Angst beeinträchtigten Tieres bezeichnet. Die sicher gewähnte Goldmedaille für Deutschland vor Augen fiel dem ARD-Kommentator erst sehr spät ein, mit der Beschwichtigungsvokabel "Tierwohl" daran zu erinnern, dass noch ein anderes Lebewesen von diesem Drama betroffen war [6].

Es macht auch wenig Sinn, Sport in diesem Fall mit Anführungsstrichen zu markieren, als sei der eigentliche Sport etwas ganz anderes. Warum wird nicht die Frage aufgeworfen, ob Menschen nicht ebenfalls Sportgeräte seien, wenn sie, in feinmaschige Regelwerke eingezwängt, Bewegungsroutinen absolvieren, deren Ertrag durch verschiedene Parameter der Leistungsbemessung bestimmt wird? Was die ArbeiterInnen an den Fließbändern der industriellen Güterproduktion selbstverständlich an Freiheitseinschränkungen ganz körperlicher Art über sich ergehen lassen müssen, findet in mit wissenschaftlichen Mitteln verfügbar gemachten Leistungsressourcen und der sportmechanischen Zurichtung des Menschen auf hocheffiziente Bewegungsabläufe seine Entsprechung im fordistischen Leistungssportbetrieb.

Die am Schlagen eines Reitpferdes im Blickfeld des Sportpublikums entzündete Debatte kann denn auch nicht weiter führen als zu einer eventuellen Modifikation des Reglements im Modernen Fünfkampf oder zusätzlichen Tierwohlauflagen, die am eigentlichen Missstand, der Ausbeutung des Tieres zu ihm fremden Zwecken, nichts ändern. Wie schon das Neutrum "das" Pferd, "das" Tier erkennen lässt, ist der prinzipielle Objektstatus und Warencharakter menschlichen Interessen unterworfener Tiere nicht ohne weiteres aus der Welt zu schaffen. Dementsprechender Bemühungen von TierrechtlerInnen und TierbefreierInnen eingedenk behält die Aussage, dass Tiere keinesfalls sprachlos sind, sondern der Mensch nur richtig zuhören müsse, um ihre Stimme zu vernehmen, bis auf weiteres Gültigkeit.

Mitleid oder andere Reflexe aus dem Projektionszirkus anthropozentrischer Befindlichkeiten sind dem Anliegen, dieses Gewaltverhältnis aufzuheben, denn auch wenig förderlich. Wenn Fremdbestimmung und Ausbeutung als speziesübergreifende Formen klassenspezifischer Unterwerfung und schmerzhafter Ohnmachtserfahrung erkannt werden, könnte die emanzipatorische Konsequenz darin bestehen, andere Tiere in ihrer Integrität zu respektieren und auf Vergleich und Unterscheidung basierende Ausschlussprozesse hinter sich zu lassen. Wird das ontologische Konstrukt, mit dem der jeweilige Platz in der Ordnung gesellschaftlicher Naturverhältnisse bestimmt wird, als maßgebliche Quelle herrschender Gewaltverhältnisse erkannt, dann könnte die schlichte Praxis zu lassen, was andere verletzt und schmerzt, viele sogenannte Menschheitsprobleme zu überwinden helfen.


Fußnoten:
[1] Jason Hribal: Animals are Part of the Working Class Reviewed, 2012, S. 25 f.

https://www.all-creatures.org/articles/ar-animals-working-class.pdf

[2] https://fuenf-nrw.de/geschichte-fuenfkampf.html

[3] https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.recherchen-von-abc-massenhaftes-schlachten-von-rennpferde-schockt-australier.2e2b5a5c-6902-44dc-a8e4-cad60e630d55.html

[4] https://www.rtl.de/cms/schock-nachricht-ueber-tausende-schlachtungen-von-rennpferden-diese-bilder-sind-der-blanke-horror-4799708.html

[5] https://www.mopo.de/sport/olympia/reit-drama-bei-olympia-schleu-spricht-erstmals-ueber-ihren-hoellenritt/

[6] https://tokio.sportschau.de/tokio2020/videos_audios/Moderner-Fuenfkampf-Drama-um-Annika-Schleu-beim-Springreiten,olympia10264.html

16. August 2021

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 166 vom 21. August 2021


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