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HERRSCHAFT/1917: Ein Ausweg ... (SB)



Die Fluchträume, in die die Menschen angesichts der Krise des Klimas, des Hungers und der Pandemie noch ausweichen können, verengen sich zusehends. Dämmert es den Bevölkerungen der hochproduktiven Industriegesellschaften allmählich, dass auch sie nicht unbeschadet von den Folgen des fossilistischen Kapitalismus bleiben, müssen Millionen aufgrund der sozialökologischen Folgen dieser Entwicklung längst ihre Siedlungsgebiete verlassen. Je mehr die Menschen auf Subsistenzniveau existieren, desto ohnmächtiger sind sie der längst begonnenen Klimakatastrophe ausgeliefert. Demgegenüber eröffnet die Abstraktion des Wertes und der Arbeit im Kapitalismus Überlebensperspektiven, die sich als fiktiv erweisen erst bei ihrer praktischen Widerlegung, was mit der Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse in bedrohliche Nähe rückt. Wessen Umgebung zu heiß, zu trocken, zu nass, zu stürmisch, zu vergiftet wird, um nennenswerte Erträge im Ackerbau und halbwegs sichere Wohnverhältnisse zu gewährleisten, dem bleibt keine Wahl als die Flucht in die Weite des Raums, sprich in Weltregionen, die keinen Zutritt gewähren.

Nun, da das von existenzbedrohenden Wetterkatastrophen weitgehend verschont gebliebene Westeuropa mit den konkreten Auswirkungen des Klimawandels konfrontiert ist, wäre nichts rationaler, als sich mit den bereits schwer betroffenen Menschen im Globalen Süden zusammenzutun und gemeinsam zu überlegen, wie sich die Lage für alle verbessern ließe. Von Flüchtenden ist viel zu lernen über die Auswirkungen der eigenen Politik und Produktionsweise, bevor diese so umfassend in Erscheinung treten, dass die kolonialistische Distanz zwischen den Orten des Raubbaus und seines Verzehrs kollabiert. Statt dessen bildet sich der privilegierte Globale Norden ein, die Gefahr vor den eigenen Landesgrenzen neutralisieren zu können, und rüstet diese zu Todeszonen auf.

Nationalstaatliche Festungsmentalität könnte im besten Fall Inseln des Überlebens für Menschen von hohem Sozialstatus schaffen. Wenn der größere Teil der Bevölkerung nicht mehr von der expansiven Ressourcenpolitik der EU profitieren sollte, dann verschärfen sich die Klassengegensätze im Binnenraum, was langfristig bürgerkriegsartige Auseinandersetzungen und den Zusammenbruch der Versorgungsinfrastruktur zur Folge hätte. Das wäre auch ohne pandemische Krise der Fall, doch die permanente Unterminierung gewohnter Produktivitätsfortschritte durch infektionsbedingte Unterbrechungen verleiht dieser Entwicklung geradezu Flügel.

Wie der Weltklimagipfel in Glasgow gezeigt hat, werden auf politischer Ebene Fluchträume in Form perspektivischer Emissionsminderungen und großartiger Zahlungsversprechen eröffnet, von denen niemand weiß, ob sie sich je realisieren lassen. Anstatt den bereits angerichteten Schaden sofort zu mindern, indem Emissionen an der Quelle unterbunden werden, wird ein Verbrauchsniveau verteidigt, das das Löschen des fossilen Brandes in unabsehbare Ferne rückt. Die vermeintlich heilsbringende Zukunft des Net Zero steht im Schatten gewohnter Verbrauchs- und Produktionsverhältnisse, sie reflektiert nichts als die Gewalt etablierter Eigentumsordnungen, deren träges Momentum die Historie des fossilen Kapitalismus ins Unendliche streckt. Wie in einem Akt aus dürren Zahlen puren Wert schöpfender Alchemie illuminiert der fossile Kapitalismus Fristen und Distanzen, mit denen die Zeithorizonte der Klimakrise, die auch bei sofortiger Intervention auf Jahrzehnte hinaus weiter eskaliert, auf die eigenen Produktionsverhältnisse angewendet werden. Um kurzfristige Vorteilsnahme in langfristige Herrschaft zu verwandeln, bedarf es einer Naturalisierung seiner Wertproduktion, die Verbrauch und Zerstörung vieler auf die Habenseite weniger überträgt - Emissionshandel, Biodiversitätszertifikate, Offsetting, Netto Null.

Menschen sind Fluchttiere, dem sogenannten Zuchtvieh nicht unähnlich, das nach einem Sommer auf der Weide gerne in den Stall zurückkehrt, der sich als Verhängnis blitzender Messer und dampfender Blutströme erweist. Warten und Schauen, ob nicht eine bessere Gelegenheit des Weges kommt, ist ihr ganzes Trachten, denn die Konfrontation mit Not und Tod verspricht nichts als mehr Probleme, mehr Mühe und mehr Schmerzen. Ein Ausweg aus der Misere, der sich nicht als weitere Flucht ins Nirgendwo verloren gegangener Chancen erweist, müsste sich schon dadurch auszeichnen, dass weder Mut noch Angst gescheut werden ihn unumkehrbar zu beschreiten.

Darauf zu hoffen, dass sich Auswege eröffnen, ist religiöser Jenseitsglaube, der allein davon befeuert wird, woanders zu verorten, was vermieden wurde zu tun. Die Verheißung des Grünen Kapitalismus, alles könne so bleiben wie es ist, nur dass hier und dort an ein paar Stellschrauben gedreht wird, baut auf den zivilreligiösen Glauben an die erlösende Kraft technologischer Innovation. Ein Ausweg, der nicht sofort in Anspruch genommen und auf seine Haltbarkeit hin überprüft wird, schnallt die unabgeschlossene Perspektive auf die Streckbank unüberbrückbarer Distanzen, er bringt erst hervor, was nach Erlösung streben muss.

Dabei bietet die multidimensionale Krise die Möglichkeit, nicht nur Symptome zu kurieren und an unzureichender Problemerkenntnis zu scheitern, sondern den Mensch-Natur-Stoffwechsel als zentralen Widerspruch aufzuheben und die Untrennbarkeit menschlicher Verhältnisse von allem Leben als Ausgangspunkt eines Neubeginns zu setzen. Der zivilisatorische patriarchale Auftrag, sich die Natur untertan zu machen, erweist sich als fundamentale Fehlkonzeption, ist doch die menschliche Physis so sehr in Lebens- und Verbrauchsverhältnisse eingebunden, dass die anthropozentrische Grenzziehung zuvörderst produziert, was als Rauswurf aus dem Paradies gezielt in die Irre führt.

Als ummauertes Ergebnis eines Schöpfungsaktes, in dem Distanz, Vergleich und Unterscheidung zur furchteinflößenden Trias menschlicher Herrschaft erstanden, markiert der Garten Eden bis heute den Fluchtpunkt der Hoffnung, von Schuld entlastet zu werden, anstatt sie von Beginn an zu bestreiten. Als Symbol reformerischen Naturschutzes steht er für die Regression in das Vergessen eigener Grausamkeit, womit sich alles revolutionäre Aufbegehren erledigt, bevor die Produktivkraft des Widerspruchs überhaupt in Anspruch genommen wird.

Grenzen werden als Markierung des Eigenen durchgesetzt, um auf legitime Weise unterwerfbar und ausbeutbar zu machen, was in der zivilisatorischen Mission als dem Eigenen nicht zugehörig ausgewiesen wird. Der Universalismus der Gleichheit, so sehr er unter gegebenen Bedingungen hochzuhalten ist, ist ein Produkt durch Teilung und Trennung, Vergleich und Unterscheidung erzeugter Ungleichheit. Wie das Kapital mehr nur erzeugen kann auf der Basis von weniger, so bedarf seine Herrschaft die aus Mangel und Not akkumulierte Bringschuld der der Mittel ihrer sozialen Reproduktion beraubten Klasse der LohnempfängerInnen und des überflüssig gemachten Prekariats.

Ein Ausweg aus der Falle, die Verbindung zu den Opfern eigener Zerstörungspraxis mit der absehbaren Folge ihrer untoten Wiederkunft zu kappen, bestände naheliegenderweise darin, die Logik des Auswegs, neue Räume für den immer gleichen Brand zu eröffnen, eben dort zu brechen, wo der Kampf um die Befreiung vom Naturzwang perspektivisch relativiert und ins Unendliche verschoben wird. In der Enge dieser Auseinandersetzung erwiese sich schnell, dass der Kampf um Befreiung niemals Teilbereiche oder Nebenwidersprüche betrifft, sondern stets ums Ganze geführt wird. Klimakrise, Pandemie, Kapitalismus, Rassismus, Sexismus sind keine bestenfalls lose miteinander verknüpften Schauplätze notwendiger Emanzipation, sondern erwiesen sich in der revolutionären Umwälzung aller Verhältnisse als verschiedene Gesichter eines Kampfes.

Allein die weitgehende Abwesenheit eines Gespräches über Ökosozialismus zeigt, dass nicht einmal aus Krisengründen naheliegende Gesellschaftsentwürfe ernsthaft in Betracht gezogen werden. Wenn nicht einmal die Eigentumsfrage gestellt und der Tod des anderen Lebewesens als primäres Funktionsprinzip gesellschaftlicher Naturverhältnisse in Frage gestellt wird, wie sollten Menschen die Frage der Machbarkeit grundlegender Veränderungen auch nur theoretisch erwägen? In dem Moment, wo ein Ausweg die Kraft des Versprechens und den Lichtschein der Hoffnung entfacht, ist es um seine Machbarkeit geschehen. Das Unmögliche zu tun, und sei es den Ökosozialismus zu erkämpfen, wird paradoxerweise nur dann möglich, wenn sich keine Auswege anbieten.



1. Dezember 2021

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 170 vom 4. Dezember 2021


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