Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

PROPAGANDA/1331: Angestrengte Beschwichtigung verrät Angst vor Sozialrevolte (SB)



Kaum waren die düsteren Prognosen über die wirtschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik veröffentlicht, da brach auch schon eine prophylaktische Debatte um soziale Unruhen in Deutschland aus. Die Behauptung, sie wäre von der SPD-Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten, Gesine Schwan, ausgelöst worden, soll lediglich von der Relevanz dieser Möglichkeit ablenken. Weder ihr noch DGB-Chef Michael Sommer kann man unterstellen, etwas anderes im Sinn gehabt zu haben als eben das zu verhindern, was ihnen nun als eine Art rhetorische Brandstifterei angelastet wird. Schwan sprach schlicht an, was angesichts der tiefen Legitimationskrise des Kapitalismus in der Luft liegt, und Sommer bietet seine Dienste an, den Protest zu kanalisieren, was üblicherweise mit einer kleinen Gegenleistung für die Gewerkschaften und ihre Klientel verbunden ist.

Weit mehr als die originären Bemerkungen Schwans und Sommers künden aufgeschreckte Reaktionen in Politik und Medien davon, daß die soziale Revolte kein Hirngespinst ist, sondern selbst unter den braven Bürgern der Bundesrepublik ausbrechen könnte. Die Behauptung des SPD-Fraktionschefs Peter Struck, die beiden würden französische Zustände "herbeireden" und damit die Bemühungen der Bundesregierung "untergraben", die "tiefe Krise für die Menschen abzumildern", die Rüge des Bundeswirtschaftsministers Karl-Theodor zu Guttenberg, er halte es für "verantwortungslos, nachgerade für dumm, in einer solchen Situation eher noch einen Beitrag zur Verunsicherung zu leisten", die Warnung des Arbeitgeberfunktionärs Dieter Hundt, die negative Stimmungsmache sei gerade in der gegenwärtigen Krise "äußerst schädlich", die Klage der Bundeskanzlerin Angela Merkel, es sei "völlig unverantwortlich, jetzt Panik zu machen und Ängste zu schüren", sowie diverse Medienkommentare, laut denen der DGB-Chef "gefährlich zündelte" und die Präsidentschaftskandidatin auf einen "Horrorzug" aufspringe, machen in diesem Kontext verbreitete Beschwichtigungen zur Besonnenheit der Bürger, zum baldigen Abflauen der Krise und zur Befriedungsfunktion des Sozialstaats nicht eben glaubwürdiger.

Die recht unfreundlich ausfallende Schelte und die angestrengte Verharmlosung des wirtschaftlichen Niedergangs belegen, daß Schwan und Sommer mit ihren Bedenken ins Schwarze getroffen haben. Nur nicht dran rühren, lautet das Tagesmotto, das durch das angestrengte Ignorieren der Proteste, mit denen die Menschen im Nachbarland Frankreich der Wut über Entlassungen und Lohhnkürzungen Luft machen, nicht eben den Eindruck einer erfolgreichen Strategie erweckt. Wird der Klassenkonflikt der bundesrepublikanischen Gesellschaft auch nur im Ansatz auf seinen konfrontativen Nenner gebracht, dann tritt die Heilige Inquisition der herrschenden Ordnung auf den Plan und straft jeden als Häretiker ab, der nur wohlmeinend darüber nachdenkt, wie man möglicherweise unkontrollierbare Reaktionen der Lohnabhängigen und Erwerbslosen auf ihre verschlechterte Situation in den Griff bekommen könnte.

Die aufgeregte Reaktion der politischen Führung und der Medien auf die Möglichkeit, die Bürger könnten ihr Schicksal tatsächlich einmal "eigenverantwortlich" in die Hand nehmen und sich gegen die Agenten ihrer Atomisierung verbünden, belegt, wie sehr eine solche Entwicklung für möglich und wahrscheinlich gehalten wird. Politiker und Journalisten wissen recht gut Bescheid über die Mechanismen der Aufmerksamkeitsproduktion und Ablenkungsmanöver, mit denen herrschende Interessen gegen einen Großteil der Bevölkerung durchgesetzt werden. Der prognostizierte Rückgang der Wirtschaftsleistung kann auch durch noch so häufiges Beschwören eines baldigen Endes der Wirtschaftskrise nicht einfach aus der Welt geschafft werden. Wer sein Leben als Lohnabhängiger fristet, ist sich im Klaren darüber, daß eine solche Entwicklung jeden mit Lohnkürzung oder Entlassung bedroht, der keinen bombensicheren Job hat.

Selbst wenn der aktuelle Niedergang in absehbarer Zeit die Talsohle durchschritten hätte, führte er zu einer langfristigen Verkleinerung der produktiven Basis und damit einer dauerhaft höheren Arbeitslosigkeit. Die Bedingungen für Lohnabhängige, die schon zu Zeiten relativen Wirtschaftswachstums mit realen Lohnkürzungen dafür herhalten mußten, daß deutsche Exportunternehmen die ausländische Konkurrenz erfolgreich niederkonkurrieren konnten, werden auf jeden Fall schlechter werden. Der Verweis auf das deutsche Sozialsystem kann kein Trost für denjenigen sein, der das Schicksal von Hartz-IV-Empfängern kennt, sondern wird von ihm als existentielle Bedrohung erlebt.

Vor allem jedoch wissen Menschen, die nichts als ihre Arbeitskraft zu verkaufen haben, daß jeder Cent, der Arbeitern und Erwerbslosen zugute kommt, auf die Goldwaage eines Rentabilitätsdogmas gelegt wird, dessen Verfechter schon bei mäßigen Lohnforderungen Zeter und Mordio schreien und behaupten, "wir" lebten ohnehin über "unsere" Verhältnisse. Dennoch sind sich die Eliten in Politik und Wirtschaft innerhalb kürzester Zeit handelseinig, selbstverschuldet in die Krise geratenen Banken mit Milliarden unter die Arme zu greifen, selbst wenn diese Gelder mit großer Wahrscheinlichkeit als Totalverlust abgeschrieben werden müssen. Die Crux des Sozialkampfes liegt darin, daß den Interessen des Kapitals um so bereitwilliger entsprochen wird, als man Arbeitern jeden Cent vorenthält, den sie sich nicht mühsam erstritten haben.

Das Kapitalverhältnis bleibt die gesellschaftspolitische Achse des Bösen, auch wenn Politiker und Journalisten ihrer Aufgabe, dieses Gewaltverhältnis zu beschönigen, mit noch so viel Eifer nachkommen. Von einem hochgerüsteten Sicherheitsstaat gegängelte und eingeschüchterte Bürger können zu einem unberechenbaren Faktor werden, wenn ihnen das Wasser bis zum Hals steht und sie den naheliegenden Eindruck erhalten, auf dem Altar der Überlebenssicherung anderer geopfert zu werden. Dem entgegenzuwirken verlangt andere Maßnahmen als weitere Bankenrettungspläne und Konjunkturprogramme, mit denen die Interessen von Kapitaleignern bedient werden. Das Problem an systemischen Veränderungen ist allerdings, daß die Apologeten des herrschenden Akkumulationsregimes darin keinen Platz haben können, sonst wäre es kein effizienter Neubeginn. Wer aufgeregt versucht, jeden Funken wirksamer Aktions- und Protestformen auszutreten, der will nicht nur den Frieden einer vertikalen Überlebenshierarchie bewahren, der will vor allem sein dieser Ordnung geschuldetes Nutznießverhältnis sichern.

24. April 2009