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PROPAGANDA/1407: Ohne Kollaboration der Infoelite kein Volkstribun Thilo Sarrazin (SB)



Die immense Aufmerksamkeit, die dem neuen Volkstribun Thilo Sarrazin zukommt, ist Ergebnis der hochgradigen Bereitschaft der Mehrheitsmedien, seinem Feldzug gegen muslimischen Migrantinnen und Migranten wie allen anderen sozial und ökonomisch ausgegrenzten Bürgern Nahrung zu geben. Obwohl es keine besonderen Anforderungen an den politischen und ideologischen Sachverstand der daran beteiligten Journalisten stellt, den rassistischen Charakter seiner Behauptungen und Forderungen zu erkennen, werden diese auf eine Weise kolportiert, die bar jeder Aufklärung über ihren menschenfeindlichen Gehalt ist.

Ausnahmen, die das sozialeugenische Fundament der Anprangerung angebliche genetisch tradierter Defizite bestimmter Bevölkerungsgruppen beim Namen nennen, bestätigen die Regel des in Anspruch genommenen Grundsatzes, man müsse doch auch über derartige "Probleme" offen debattieren können. Die herrschaftstechnisch formierte Informationsgesellschaft läßt das freie Wort, das für Sarrazin reklamiert wird, bestenfalls in den Nischen des Internets zu. Öffentlich-rechtliche wie privatwirtschaftliche Medien hingegen haben den informellen Auftrag, herrschende Interessen auf systemkonforme Weise zu moderieren. Dies zu begründen bedarf es keiner Verschwörungstheorie. Die schlichte, empirisch zu belegende Einsicht in die Notwendigkeit einer Widerspruchsregulation, die durch mehrere synchron verlaufende Krisen gobalen Ausmasses um so unabdinglicher erscheint, reicht dazu aus.

So wird die soziale Krise der Bevölkerung keinesfalls dadurch gewürdigt, daß die von Hartz IV oder anderen Transferleistungen abhängigen Bürger in gleichem Maße zu Worte kämen als die Funktionseliten, die dieses Programm zur Lohnkostensenkung und Armutsverwaltung als notwendiges Übel zum Erhalt wachstumsorientierter Produktivität rechtfertigen. Das neoliberale Paradigma bleibt auch in der Form eines krisenadäquat aufgewerteten Staatsinterventionismus tonangebend und begünstigt das Interesse des Finanzkapitals am Erhalt eines weitreichend deregulierten Finanzmarkts wie einer investorenfreundlichen Steuer- und Standortpolitik. Der das Gemeinwohl schwer belastenden Krise der Staatsfinanzen wird nicht etwa durch die Verstaatlichung überschuldeter Banken oder die finanzielle Inpflichtnahme der Profiteure des Finanzmarktkapitalismus entgegengetreten. Statt dessen haben Politiker und Ökonomen in den Medien das Sagen, die die Refinanzierung der Banken und die Rentabilität der produzierenden Wirtschaft zu Lasten der Lohnabhängigen und Versorgungsbedürftigen propagieren.

Obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung die Kriegführung der Bundesregierung ablehnt, findet deren angebliche Notwendigkeit weit mehr Widerhall in den Medien, als es die Forderungen der Kriegsgegner tun. Die dazu propagierte Begründung, es ginge in Afghanistan um die Abwehr des Terrorismus, kann gar nicht realitätsfern genug sein, um nicht journalistisch bestenfalls vorsichtig bemängelt, in der Regel jedoch zustimmend verbreitet zu werden. Dies ist um so verhängnisvoller, als der antiislamische Furor Sarrazins und Konsorten mit den bündnis- und geostrategischen Interessen der Bundesregierung korrespondiert. Was von langer Hand in den frühen 1990er Jahren unter dem Schlagwort des "Clash of Civilizations" als Ersatz für das irrelevant gewordenen Zerrbild vom alles gleichermaßen grau machenden Kommunismus initiiert wurde, feierte in führenden Medien mit rassistischen Stereotypien Triumphe, die bei einigen davon betroffenen Muslime den Charakter einer selbsterfüllenden Prophezeiung annahmen.

Wo sich deren Stimme auf unvermittelte Weise erhebt, ist man mit dem jedes weitere Wort verbietenden Begriff des "Haßpredigers" schneller bei der Hand, als ein so offener wie kontroverser Streit um die Gründe dieser Polarisierung überhaupt ausbrechen könnte. Sarrazin hingegen wird der unversöhnliche Tenor seiner rassistischen Urteile zugestanden, ohne daß eine größere Zeitung auch nur anzumerken wagte, daß das Predigen von Haß nicht nur Sache islamistischer Wortführer sei. Wie beim Streit um die Mohammed-Karikaturen wird Presse- und Meinungsfreiheit in seinem Fall so absolut gesetzt, wie diese Grundrechte bei mißliebigen Minderheiten relativiert werden. Die mit der Ausschließungs- und Vernichtungslogik der Nazis gegenüber Gruppen, die ihrem Rasseideal nicht entsprachen, strukturell identische Herabsetzung von Menschen allein aufgrund ihrer ethnisch-religiösen Herkunft wird als aufregendes Spektakel goutiert, ohne daß die zerstörerischen Folgen dieser Ideologie auf den Schlachtfeldern des sozialen Weltkriegs, in dem täglich Zehntausende Menschen verhungern oder an anderen Folgen krasser Armut verenden, auch nur entfernt bedacht werden.

Die von Sarrazin ausgehende Gefahr besteht nicht so sehr in der kompromißlosen Herabwürdigung angeblich erbbiologisch auf ihre Mangelkonstitution festgeschriebener Menschengruppen als in der Seriosität, die ihm massenmedial zugestanden wird. Wo aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit eindeutig als solche erkennbare neonazistische Demagogen draußen bleiben müssen, wird einem Bruder im Geiste, der seine rassistischen Ansichten nur notdürftig mit einer ihrerseits kritikwürdigen humangenetischen Anthropologie bemäntelt, der Teppich ausgerollt. Der dagegen gerichtete Protest sollte sich daher gleichermaßen gegen eine Infoelite richten, die ihren Informationsauftrag als Indoktrination zum Schutz ihrer Klassenprivilegien versteht.

1. September 2010