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PROPAGANDA/1424: Atomkatastrophe - Beschwichtigung kann auf Dauer nicht verfangen (SB)



250.000 DemonstrantInnen in Berlin, Hamburg, Köln und München gegen die Atompolitik der Bundesregierung und für das sofortige Abschalten aller Atomkraftwerke sind ein schöner Erfolg für die Bewegung und ein starkes Signal dafür, daß sich in diesem Land wieder etwas regt. Zweifellos war die rege Beteiligung der Katastrophe von Fukushima geschuldet, allerdings hatte die Anti-Atomkraft-Bewegung am 18. September 2010 bereits rund 100.000 AktivistInnen in Berlin aufgeboten, um gegen die geplante Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke zu protestieren. Man wäre in Anbetracht dessen, was in Japan geschieht, nicht erstaunt gewesen, wenn mehrere Millionen Menschen in der Bundesrepublik auf die Straße gegangen wären, um ihrer Sorge über diese unbeherrschbare Bedrohung Luft zu machen.

Hier scheint sich ein Tenor der Beschwichtigung beruhigend auf das Gros der Bevölkerung auszuwirken. Zum einen wird betont, daß Japan zu weit entfernt sei, als daß die Auswirkungen der Katastrophe die BRD erreichen könnten, zum andern wird suggeriert, daß die Angelegenheit sich bei allen schlechten Nachrichten doch absehbar entschärfen werde. In beiden Fällen hat man es mit einer aus dem medialen Reflex der systemischen Bestandssicherung wie dem Eigeninteresse der Journalisten am Verbreiten hoffnungsspendender Nachrichten gespeisten Form der Meinungsregulation zu tun, die, ob wissentlich oder dem Trieb der Herde folgend, weitergehende Erschütterungen der herrschenden Ordnung verhindern soll.

Japan mag geographisch auf der anderen Seite der Erde liegen, als eines der großen Zentren des kapitalistischen Weltsystems ist das Land dennoch weit enger mit der Bundesrepublik verknüpft als mancher EU-Staat Mittelosteuropas. Die möglichen Auswirkungen des ökonomischen Niedergangs Japans, des Ausfalls seiner HighTech-Industrie, des Rückzugs seines im Ausland angelegten Kapitals und eine nicht mehr erfolgende Bedienung der immensen Staatsschuld könnte weit größere Auswirkungen auf die bereits krisengeschüttelte Eurozone haben, als allgemein eingestanden wird. Ein Grund dafür, daß auch Ökonomen hier zur Beschwichtigung neigen, besteht in der mangelnden Bereitschaft, über den Horizont nationalökonomischer Kenngrößen hinauszublicken und unter Einbeziehung anderer sozialer und gesellschaftlicher Faktoren wahrscheinlicher werdende worst case-Szenarios zu antizipieren.

Wenn Experten auf die Frage, ob man insgesamt Aussicht auf eine Besserung der Lage habe, antworten, daß man zwar noch keine Entwarnung geben könne, aber zumindest einige Fortschritte wie das Anschließen des Stroms im AKW-Komplex Fukushima gemacht würden, wenn sie unterstellen, daß die Lage sich mit anwachsender zeitlicher Distanz zum 11. März quasi von selbst entschärfe, dann handelt es sich um pures Wunschdenken. Man weiß, daß man fast nichts darüber weiß, was in den Reaktoren vor sich geht und inwiefern es schon zu Lecks der inneren Schutzhülle gekommen ist. Das Eingeständnis, daß der Kernkraftbetreiber TEPCO ein in großen Zügen auf Versuch und Irrtum beruhendes, aber auch symbolpolitisches Krisenmanagement betreibt, daß ein kommerzielles Unternehmen mit einer langen Geschichte irreführender Manipulationen denkbar ungeeignet ist, an einer möglichen Menschheitskatastrophe herumzulaborieren, gehört nicht zu den Dingen, die die Menschen lesen und hören wollen.

Im bereitwilligen Glauben an die Gültigkeit und Handlungsfähigkeit festgefügter Zuständigkeiten und Instanzen können sich viele Menschen kaum vorstellen, daß in Fukushima längst eine jeglicher Kontrolle entglittene Entwicklung im Gange ist, die möglicherweise zu einer Verstrahlung großer Teile Japans und vielleicht sogar der großen küstennahen urbanen und industriellen Agglomerationen Koreas und Chinas führen könnte. Es ist den vielen Menschen schlicht unerträglich auch nur zu vermuten, das vor hochgiftiger Fracht überquellende havarierte Schiff könne führungs- und orientierungslos einer moribunden Zukunft entgegentreiben.

Was geschähe, wenn Japan in größerem Ausmaße verstrahlt würde? Die bloße Möglichkeit dürfte Anlaß genug für eine Verlautbarungspolitik sein, die die Brisanz einer solchen Entwicklung notorisch verharmlost. Wenn nur einige Millionen Menschen im Großraum Tokio die Beine in die Hand nähmen, um der Gefahr einer Verstrahlung zu entkommen, wenn nur einige hunderttausend Japaner versuchten, außer Landes zu kommen, so lange es noch geht, dann hat man es mit einer Notstandssituation zu tun, in der staatliche Gewaltorgane auch Schußwaffen einsetzen, um die Lage in den Griff zu bekommen. Welches Land wollte Millionen womöglich strahlenbelasteter Japaner aufnehmen, wenn ihre Bevölkerungen schon bei einigen tausend Flüchtlingen auf die Barrikaden gehen? Die jederzeit mögliche Eskalation der Situation in Fukushima könnte Ungeheuer gebären, gegenüber denen alle Massenkatastrophen seit dem Zweiten Weltkrieg verblassen.

Zweifellos hat Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem 180-Grad-Schwenk des AKW-Moratoriums zur Beruhigung der Bevölkerung beigetragen. Die Bundesrepublik ist jedoch nur ein Land von vielen in Europa, das Kernkraftwerke betreibt, so daß es mehr als genug Grund zur Besorgnis gibt. Hinzu kommen andere, den Alltag vieler Menschen sehr viel direkter betreffende Konflikte wie die zentrale soziale Auseinandersetzung um die neoliberale Austeritätspolitik, der sich in London 500.000 Menschen entgegenstellten. Demonstrationen gegen imperialistische Kriege bringen nurmehr wenige tausend Menschen auf die Beine, dabei hängen all diese Themen eng miteinander zusammen. Die breite Mobilisierung gegen Staat und Kapital mag noch etwas auf sich warten lassen, allerdings bestehen gute Aussichten darauf, daß mit der Krise die Bereitschaft wächst, dem herrschaftlichen Krisenmanagement der Verelendung und Unterdrückung streitbar entgegenzutreten.

27. März 2011