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PROPAGANDA/1446: Orwell war gestern - Zukunft des Irans in der Faust des Westens (SB)



Als George Orwell in seinem Roman "1984" die düstere Zukunftsvision eines künftigen Regimes totalitärer Herrschaft entwarf, das das Denken und Handeln so unabweislich unter Kontrolle gebracht hat, daß Widerstand ausgeschlossen scheint, verband er damit die Warnung, dieses Schreckensszenario niemals Wirklichkeit werden zu lassen. Generationen bildungsbürgerlicher Rezeption dieses Klassikers der modernen Literatur haben etwas vollbracht, was selbst Orwell für unmöglich gehalten haben dürfte: "1984" zu kennen und doch nicht die geringsten Probleme damit zu haben, tatkräftig an der Realisierung des darin beschriebenen Systems der Herrschaftssicherung mitzuwirken, ja es weit über die Grenzen Orwellscher Vorstellungskraft im Weltmaßstab hinauszutreiben.

"Wir suchen nicht den Konflikt", erklärte US-Außenministerin Hillary Clinton nach einem Treffen mit ihrem deutschen Kollegen Guido Westerwelle am Freitag in Washington. Die iranische Bevölkerung könne ihr Recht auf eine bessere Zukunft aber nur einlösen, wenn ihre Regierung auf Atomwaffen verzichte. Dem schloß sich Westerwelle mit den Worten an, die Tür zu einem ernsthaften Dialog sei offen, doch sei der Verzicht der Islamischen Republik auf Kernwaffen unabdingbar. [1]

Die Realität sieht anders aus. Die Vereinigten Staaten haben mehrere Flugzeugträgerverbände in die Region entsandt. Israel hat eine Militäraktion nicht ausgeschlossen, Britannien für diesen Fall seine Unterstützung zugesagt. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy sieht die Zeit für die Verhinderung einer Militäroperation schwinden und appellierte an Rußland und China, ihre Haltung gegen ein Verbot iranischer Öllieferungen ebenso zu überdenken wie das Einfrieren von Vermögenswerten der iranischen Zentralbank. "Wer das nicht will, ist für das Risiko eines militärischen Konflikts verantwortlich", erklärte Sarkozy und wandte sich mit den Worten "Wir brauchen Sie" direkt an Moskau und Beijing. [2] Die Vereinten Nationen, die USA und die EU haben unterschiedliche Sanktionen gegen den Iran verhängt.

Wenn alle Zeichen auf forcierte Kriegsvorbereitungen der westlichen Mächte hindeuten, diese aber dennoch behaupten, sie seien es nicht, die den Konflikt suchten, ist ein Szenario in Stellung gebracht, das "1984" übererfüllt. Der als "Doppeldenk" ins Deutsche übersetzte Orwellsche "Neusprech"-Begriff beschreibt die Fähigkeit, im eigenen Denken zwei widersprüchliche Überzeugungen aufrechtzuerhalten und beide zu akzeptieren. Man kann absichtlich Lügen erzählen und zugleich aufrichtig an sie glauben, jede beliebige unbequeme Tatsache vergessen, solange wie nötig die Existenz einer objektiven Realität leugnen und gleichzeitig die Realität akzeptieren, die man verleugnet. Zwar räumt man durch die Verwendung des Begriffs ein, die Realität zu manipulieren, doch löscht man durch eine erneute Anwendung des Doppeldenkens diese Erinnerung aus, womit die Lüge der Wahrheit fortlaufend einen Schritt voraus ist.

Osama bin Laden in Afghanistan, die Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins, die Massaker Muammar al-Gaddafis oder die Atomwaffenpläne des Irans - die Entlarvung früherer Kriegsvorwände als Propagandakonstrukte hat in keinem einzigen Fall dazu beigetragen, den nächstfolgenden jede Glaubwürdigkeit abzusprechen und den Kriegstreibern auf breiter Front die Unterstützung zu entziehen. Orwell hat sich das folgendermaßen vorgestellt: Um an der Macht zu bleiben, müsse "die Partei" die Bevölkerung permanenter Propaganda aussetzen. Dennoch sei nicht auszuschließen, daß die Menschen diese Täuschung erkennen und sich gegen das Regime erheben. Eine perfektionierte Regierungsform bedürfe daher eines komplexen Systems der Realitätskontrolle, das nicht nur den Alltag total überwacht, sondern darüber hinaus die Menschen durch eine kognitive Realitätskontrolle in Schach hält. Gemeint ist damit die Fähigkeit, die Bevölkerung durch die Veränderung alltäglichen Sprechens und Denkens zu kontrollieren und manipulieren. "Neusprech" ist die Methode, das Denken über die Sprache zu kontrollieren. "Doppeldenk" das Verfahren, das Denken unmittelbar zu manipulieren.

Auf diese Weise, meinte Orwell, sei die Partei in der Lage, ihre eigene Bevölkerung zu terrorisieren und ihre Staatsbürger davon zu überzeugen, die Angriffe seien vom Feind veranlaßt worden. Darüber hinaus seien selbst die Parteimitglieder, die die Angriffe befohlen hatten, in der Lage zu glauben, daß die Angriffe von außerhalb gesteuert worden waren. "Doppeldenk" ist mithin der eigentliche Schlüssel zur bruchlosen Umsetzung staatlicher Doktrin ins Bewußtsein der Bevölkerung und schließt damit Konfusion und Desinformation aus, die mit primitiveren totalitären Regimes in Verbindung gebracht werden. "Doppeldenk" ist essentiell für die Fähigkeit aller Parteimitglieder, die wahren Absichten der Partei erkennen zu können, ohne vor diesen Absichten schuldbewußt zurückzuschrecken.

Womit wir wieder bei Clinton und Westerwelle wären, die mitnichten schuldbewußt davor zurückschrecken, der iranischen Bevölkerung "das Recht auf eine bessere Zukunft" abzusprechen, sofern sich ihre Regierung nicht dem Diktat der westlichen Mächte unterwirft. Am Montag will die Europäische Union in Brüssel neue Sanktionen gegen den Iran auf den Weg bringen. Wie Westerwelle erklärte, akzeptiere man ein iranisches Atomwaffenprogramm nicht. Lenke die Führung in Teheran nicht ein, gebe es keine andere Wahl, als harte Sanktionen gegen das Land zu verhängen. Es gehe hierbei für Deutschland nicht nur um den Schutz Israels, sondern auch um die Stabilität in der gesamten Region. [3]

Wozu Sanktionen führen, lehrt das Beispiel des Irak. Hunderttausende Tote und Flüchtlinge, Armut und Krankheit, sinkende Bildung und Gesundheitsversorgung, am Ende doch der Angriffskrieg des Westens. Besatzungsregime, zahllose weitere Opfer, Aufspaltung des Landes, ein nicht endender Bürgerkrieg. Warum das alles sehenden Auges angerichtet und weitgehend widerspruchslos für notwendig erachtet wird, vermag Orwell nicht zu erklären. Sich an ihn zu erinnern, könnte aber zumindest zur Erkenntnis beitragen, daß der heute praktizierte "Doppeldenk" das Szenario von "1984" längst in den Schatten stellt.

Fußnoten:

[1] http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/aktuell/429135_USA-suchen-laut-Clinton-keinen-Konflikt-mit-Iran.html

[2] http://www.rentner-news.de/content/Clinton-und-Westerwelle-Wir-suchen-nicht-den-Konflikt-mit-dem-Iran

[3] http://www.fr-online.de/politik/westerwelle-in-den-usa-deutschland-und-usa-erhoehen-druck-auf-iran,1472596,11488268.html

21. Januar 2012