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PROPAGANDA/1504: Opfermißbrauch - die Realitätsverzerrung der AfD ... (SB)



Nur noch die Fackeln fehlten, um die einschlägige Bildsprache rechtsradikaler Aufmärsche gestern und heute zu bedienen. Der sogenannte Trauermarsch von AfD, Pegida und ProChemnitz am 1. September 2018 zelebrierte vermeintliche Opfer migrantischer Gewalt mit großen Fotoplakaten, die in einem eigens auf der Demonstration von Ordnern geschützten Bereich von jeweils einer Person wie eine Monstranz der wütenden Anklage vor sich her getragen wurde [1]. Zahlreiche Deutschlandfahnen markierten den Anspruch der mehreren tausend Marschierer, für das ganze Land Klage gegen gegen den Tod unschuldiger BürgerInnen zu erheben. Gemeint waren nicht etwa die vielen Frauen, die in den heimischen vier Wänden von ihren Ehemännern ermordet werden, oder die Flüchtenden, die beim vergeblichen Versuch, die rettende Küste der EU zu erreichen, elendiglich im Mittelmeer ertrinken, sondern ausschließlich Opfer migrantischer Gewalt.

Aufgerufen zum "Trauermarsch" hatte unter anderem Björn Höcke, Sprecher der AfD Thüringen und Hoffnungsträger der rechtsradikalen Parteimehrheit. Gegen ihn hat die Staatsanwaltschaft Chemnitz nun Ermittlungen wegen Verstoßes gegen das Urheberrecht eingeleitet. Er hatte ein Foto von der Demonstration, die er - in schwarzem Anzug mit schwarz-rot-goldenem "Herz für Deutschland" am Revers - anführte, auf seiner Facebookseite gepostet, angeblich um das Ereignis zu dokumentieren. Geklagt hatte die Familie der beim Trampen mutmaßlich von einem marokkanischen Fernfahrer getöteten Sophia, einer passionierten Aktivistin für Flüchtlingshilfe [2], um die Instrumentalisierung ihres Todes für Zwecke, die sie niemals gutgeheißen hätte, zu unterbinden. Die Angehörigen, die aufgrund ihrer politischen Einstellung gegen rechts immer wieder zum Ziel haßerfüllter Botschaften wurden, hatten bei der Beerdigung von Sophia erklärt:

Wir können, wir müssen sie nicht mehr beschützen. Nur vor einem noch (...): vor dem Missbrauch ihrer Geschichte und ihres Namens. Wenn ihrem Namen, wenn ihrer Liebe, wenn ihrer Haltung und ihrem Schicksal Gewalt angetan werden, weil manche meinen, damit Hass und Kälte verbreiten zu können - und menschenverachtendes Reden und Verhalten rechtfertigen zu können - ja, davor können und müssen wir sie schützen. [3]

Auch die Familie des Chemnitzer Mordopfers Daniel, dessen Tod zum Auslöser der tagelangen Auseinandersetzungen in der sächsischen Stadt und Angriffe auf vermeintlich nicht deutsche Menschen geführt hatte, hatte sich mehrfach gegen die politische Instrumentalisierung ihres Verlustes verwahrt. Das Exponieren bestimmter Mordtaten zur Mobilisierung massenhafter Empörung ist ein klassisches Mittel im politischen Kampf. So wurden die längst geplanten Novemberpogrome 1938 gegen die jüdische Bevölkerung in Hitlerdeutschland mit einem Attentat auf den NS-Diplomaten Ernst Eduard vom Rath in Paris durch Herschel Grynszpan begründet. Der aus Polen stammende Jude soll aus Rache für die Drangsalierung seiner Familie gehandelt haben, was dann zur Aufstachelung der deutschen Bevölkerung zur offenen Verfolgung ihrer jüdischen MitbürgerInnen führte.

Wenn es um Gewalt gegen Frauen geht, gibt es für die AfD offensichtlich nur messerstechende Ausländer. Und handelt es sich bei dem mutmaßlichen Täter nicht um einen Flüchtling oder Migranten, sondern einen Trucker arabischer Herkunft, kommt das der rassistischen Stereotypie ihrer Feindbildproduktion ebenso gelegen. Überspitzt gesagt, müßte die AfD zum Verbot des Befahrens deutscher Straßen durch ausländische LKW-Fahrer aufrufen. Das liefe jedoch der von der Partei in Anspruch genommenen Strategie zuwider, der deutschen Wirtschaft alle Vorteile bei Aktivitäten in anderen Ländern zuzugestehen, ohne daraus resultierende Verpflichtungen anzuerkennen und aufgrund neokolonialistischer Praktiken entstehenden Wanderungsbewegungen die nationalen Grenzen zu öffnen.

Die große Mehrzahl der an Frauen verübten Vergewaltigungen und Morde findet in Zweierbeziehungen und kleinfamiliären Verhältnissen statt, die die AfD mit dem Institut der bürgerliche Ehe propagiert und verteidigt. Der Kampf der Partei gegen "Genderwahn" und Feminismus richtet sich gegen alle Menschen, die in Anspruch nehmen, unabhängig von den Erwartungen und Vorstellungen anderer Menschen leben und lieben zu wollen. Mit der antifeministischen Stigmatisierung von Frauen, die sich herausnehmen, die patriarchale Dominanz von Männern zum Problem zu erklären, schlägt die AfD in die seit jeher von Frauenhassern bevorzugte Kerbe, in ihrer Geschlechtlichkeit selbstbewußten Frauen zu unterstellen, damit geradezu zu Übergriffen einzuladen.

Daß sie damit mit manchen muslimischen Männern einer Meinung sind und sie diesen in ihrem patriarchalen Selbstverständnis weit näher stehen, als sie sich eingestehen würden, ändert nichts daran, daß Musliminnen, die beschimpft und gedemütigt werden oder denen gar der Schleier vom Kopf gezogen wird, keineswegs von AfD-Mitgliedern oder Pegida-AktivistInnen verteidigt werden. Ob Frauen als politisch radikale Feministinnen oder sich einem restriktiven Sittenkodex unterwerfende Musliminnen - den Herren der Neuen Rechten ist weder die eine noch die andere recht. Welche Frau wohl am ehesten in ihr Beuteschema paßt, dürfte an ihrer Bereitschaft zu bemessen sein, sich mit Heim und Herd zufriedenzugeben und viele neue Deutsche für Fabrik und Militär in die Welt zu setzen.

Die Einleitung von Ermittlungen gegen Höcke ist ein kleiner Erfolg an der breiten Front eines geschlechterpolitischen Rollbacks, der nicht nur von der AfD ausgeht, sondern auch von christlichen "LebensschützerInnen" betrieben wird. Gar nicht erst den Gedanken daran aufkommen zu lassen, daß die Unterstellung einer natürlichen Rangfolge der Geschlechter und einer binären Geschlechterordnung ganz bestimmten Interessen entspringt, die auch dadurch, daß sie seit Jahrtausenden mit massiver Gewalt durchgesetzt werden, nicht legitimer werden, ist das Ziel des Versuches, den Stand mühsam erreichter Fortschritte auf das repressive Niveau der 1950er Jahre zurückzudrehen. Von daher ist die Strategie, die autoritären und restaurativen Ziele der Neuen Rechten nicht zuletzt anhand ihres antifeministischen Anspruches kenntlich zu machen, kein schlechtes Mittel im Kampf gegen die von ihnen ausgehende politische Gefahr.


Fußnoten:

[1] https://youtu.be/n8pD0C2WdY4

[2] https://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/herr1785.html

[3] https://www.br.de/nachrichten/bayern/beim-trampen-getoetete-sophia-in-amberg-beigesetzt,R3sQqJ7

17. Dezember 2018


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