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RAUB/0890: Sozialdarwinistische Reorganisation neoliberaler Prinzipien (SB)



Laut dem DGB fällt inzwischen jeder vierte neue Arbeitslose direkt nach der Kündigung in Hartz IV. Allein in den ersten vier Monaten des Jahres seien 440.000 Lohnabhängige unmittelbar nach ihrer Entlassung zu Hartz IV-Empfängern geworden. Sie hatten keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld I, weil sie zu kurz angestellt gewesen waren, um dementsprechende Leistungen zu erhalten. Nun schwellen die Kosten für den Bundeshaushalt an, wie das Kieler Institut für Weltwirtschaft (ifW) prognostiziert. Im kommenden Jahr werden bis zu 6,4 Millionen Menschen Arbeitslosengeld II beziehen, damit entsteht für den Bund nächstes Jahr eine Mehrbelastung von rund 7 Milliarden Euro, während für die Städte und Gemeinden rund 1,2 Milliarden Euro an zusätzlichen Kosten für die Unterbringung der Alg II-Empfänger anfallen. Dies ist zwar nichts im Verhältnis zu den Milliarden, die angeschlagenen Banken über Nacht zugeschoben werden, doch in jedem Cent, der nicht in die Kapitalakkumulation fließt, steckt der Stachel systemischer Negation, so daß er sehr viel mehr schmerzt als die vielen Euro, die in die Bodenlosigkeit verflossener Gewinnerwartungen geworfen werden.

Der Absturz in die Armut ist für weitere Hundertausende Bundesbürger vorprogrammiert, und er verdankt sich einer sogenannten Reform der Sozialgesetze, mit der unter dem Motto "Fördern und Fordern" suggeriert wurde, es gäbe genügend Erwerbsarbeit für alle, wenn nur auf die Leistungsempfänger genügend Druck ausgeübt werde, um sie zur Annahme jeder Form von Lohnarbeit zu nötigen. Wie längst erwiesen ist, hat sich die Erwartung, mit dem angeblichen Fördern durch das veritable Zwangsarbeitssystem der Ein-Euro-Jobs werde ein neuer Zugang zum ersten Arbeitsmarkt eröffnet, bei weitem nicht erfüllt. Was schon zu Zeiten des sogenannten Aufschwungs nicht stimmte, kann nun, da sich die Entlassungswelle erst aufbaut, nur als zynische Verpackung einer Repressalie verstanden werden, mit der der ideelle Wert der Arbeit nach dem Motto "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen" zum immer spröderen Kitt virulenter Widersprüche verabsolutiert wird.

Die Arbeitsgesellschaft, in der sich der einzelne über seinen Beruf definiert, rutscht als ganzes in eine Zone der Not und des Zwangs, in der die derweil anläßlich des 60. Jubiläums des Grundgesetzes abgefeierte Menschenwürde wie ein Atavismus aus grauer Vorzeit wirkt. Die Ausgrenzung der Erwerbslosen in eine vom normalen gesellschaftlichen Leben abgeschnittene Welt, in der, von staatlichen Aufsehern überwacht, Grundrechte wie die freie Wahl des Berufs, die Freiheit der Bewegung, das Streikrecht und das Eigentumsrecht für die Betroffenen aufgehoben wurden, kann nicht einmal mehr zum Schein unter das Ziel subsumiert werden, einem angeblich allen Menschen zugutekommenden Wirtschaftssystem die dafür erforderlichen Arbeitskräfte zuzutreiben.

So hängt das schnelle Abrutschen in Hartz IV unmittelbar mit der Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse, die programmatischer Bestandteil der Flexibilisierung des Faktors Arbeit sind, zusammen. Der Abbau vertraglich gesicherter Vollzeitstellen zugunsten einer vorzugsweise niedrig entlohnten Jobkultur hat die Wirksamkeit der Androhung, bei Verweigerung mit dem Hartz-Regime bestraft zu werden, durch einen Strukturwandel der Beschäftigungsverhältnisse, der ohne die sozialpolitische Verschärfung der Überlebensbedingungen nicht durchzusetzen gewesen wäre, erhöht. Die Begründung der rot-grünen Urheber der Agenda 2010, mit diesem System werde die Arbeitsgesellschaft auf den Stand der kapitalistischen Globalisierung gebracht, um ansonsten angeblich anfallende Wachstumsverluste zu vermeiden, hat sich ganz im Sinne der damit intendierten Verbilligung der Lohnarbeit erfüllt, allerdings ohne das Abschmelzen des Anteils menschlicher Arbeit an der Erwirtschaftung des Bruttosozialprodukts aufhalten zu können. Ohne die mittlerweile rund eine halbe Million Lohnabhängige betreffende staatliche Alimentierung der Kurzarbeit würde sich noch deutlicher zeigen, daß die Sachwalter der angebotspolitischen Leitdoktrin einer auf den Investitionen der Unternehmen und Kapitaleigner beruhenden Schaffung von Nachfrage die Rechnung ohne den Wirt der Überakkumulation gemacht haben.

Nun erklären Wirtschaftsexperten, die den neoliberalen Angriff auf die Einkommen und Lebensbedingungen der Lohnabhängigen mit der angeblichen Erfordernis der deutschen Exportwirtschaft begründet haben, unter Weltmarktbedingungen bestehen zu können, daß sich die starke Exportorientierung angesichts des weltweiten Zusammenbruchs der finanzkapitalistisch generierten Nachfrage überlebt habe. Man müsse man, so ifo-Chef Hans-Werner Sinn, "ein neues Geschäftsmodell suchen", stelle es sich nun doch als "Fehler" heraus, daß "wir (...) unsere Ersparnisse exportiert und den Amerikanern und anderen den hohen Konsumstandard ermöglicht" (FTD, 20.05.2009) haben.

Von dem neoliberalen Vordenker auch eine Umorientierung bei der Vergabe direkt in den Konsum fließender Sozialleistungen zu erwarten wäre allerdings übertrieben - Sinn tritt standhaft für das weitere Absenken der Sozialleistungen ein. Dies verlangt auch ifW-Chef Alfred Boss, der es unisono mit anderen Wirtschaftsexperten für einen Fehler hält, Kürzungen des Alg II-Regelsatzes für alle Zeiten auszuschließen. Wenn das allgemeine Lohneinkommen sinke, dann müßten auch Renten und Hartz IV "in gewissem Maße" (NRZ, 20.05.2009) gekürzt werden. Das "neue Geschäftsmodell" soll eben doch das alte sein, bemißt sich der Ertrag kapitalistischer Verwertung doch nach wie vor an der Abschöpfung des allein durch menschliche Arbeit generierten Mehrwerts.

Nachdem sich die Wirtschaftskrise durch die mittels Hartz IV erzwungene Absenkung des Lohnniveaus und Prekarisierung der Arbeitsbedingungen um einige Jahre hat aufschieben lassen, soll die Konsolidierung des kapitalistischen Modells nicht minder zu Lasten derjenigen gehen, die bislang schon am meisten für das Wohlleben einer kleinen Minderheit gebeutelt wurden. Die Reorganisation des herrschenden Verwertungssystems wird, wenn es nach den Plänen der politischen und ökonomischen Funktionseliten geht, von der weiteren Verschärfung des Kapitalverhältnisses bestimmt sein. Nachdem sich die Ideologie des "Förderns und Forderns" abgetragen hat, greift man unter Erhalt und Optimierung der dabei etablierten Sozialkontrolle um so unverhohlener zum Knüppel sozialdarwinistischer Herrschaftsicherung.

Was sich hier an politischen und organisatorischen Innovationen anbahnt, sollte ihrer sozialfeindlichen Intention gemäß höchst aufmerksam von den Betroffenen antizipiert und bekämpft werden. Es gibt überhaupt keinen Grund, das Krisenmanagement weiterhin in den Händen der Herolde des neoliberalen Kapitalismus zu belassen. Kommt es zu keinem Wechsel an den Schalthebeln der politischen und ökonomischen Macht, der eine andere Gesellschaft möglich macht, werden die Folgen für die große Mehrheit der Bevölkerung in noch entbehrungsreicheren und erstickenderen Lebensbedingungen bestehen.

22. Mai 2009