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RAUB/0919: Die "internationale Gemeinschaft" und der Welthunger (SB)



Wenn Wortführer der "internationalen Gemeinschaft" das Verhalten sogenannter Schurkenstaaten geißeln, versteht sich von selbst, daß diese nicht dazugehören. Dennoch wird stets der Eindruck der "einen Welt" erweckt, einer globalen Gemeinschaft von Menschen, die, da sie alle im gleichen planetaren Boot sitzen, theoretisch auch die gleichen Probleme haben. Nichts könnte irreführender sein. Schon der Ansatz, im Namen der "internationalen Gemeinschaft" einzelne Staaten auszugrenzen, an den Pranger zu stellen und möglicherweise mit militärischen Mitteln zur Raison nämlicher Weltgemeinschaft zu bringen, belegt, daß es sich um ein oligopolistisches Kartell ganz bestimmter Staaten handelt.

Die Rede ist von den ökonomisch hochentwickelten Industriestaaten, die, obwohl sie lediglich ein Sechstel der Weltbevölkerung stellen, aufgrund ihrer Produktivitätsvorteile beanspruchen, das Verhalten aller anderen zu beurteilen. Der Unterschied zwischen normativer Definitionsgewalt und den Objekten derselben ist von elementarer Wichtigkeit. Er sorgt im Endeffekt dafür, daß zum Beispiel mehrere Millionen Iraker an den Folgen einer langfristig verfolgten geostrategischen Option zugrundegehen, ohne daß den Urhebern dieses Übergriffs eine auch nur im Ansatz vergleichbare Sanktion droht. Wenn die "internationale Gemeinschaft" verfügt, daß Saddam Hussein als mit Massenvernichtungswaffen drohender Diktator zur Strecke gebracht werden muß, dann spielt es keine Rolle, daß die "internationale Gemeinschaft" ihn zuvor mit allem ausgestattet hat, was es bedarf, um diese zu produzieren. Es spielt keine Rolle, daß der Irak im Namen dieser Gemeinschaft erfolgreich abgerüstet wurde, denn das Land wurde dennoch ausgehungert und überfallen. Während der Bösewicht am Galgen endete, hat sich die "internationale Gemeinschaft" im Namen der Vereinten Nationen nachträglich den Auftrag erteilt, das Land zu besetzen, und damit auch seine Eroberung legalisiert.

Die Verwendung eines Begriffs, der globale Regelungsgewalt reklamiert, in politischen Erklärungen von weitreichender Wirkung und medialen Kommentaren mit Wahrheitsanspruch suggeriert Mehrheitsverhältnisse, die den Eindruck erwecken, hier sprächen Politiker und Funktionäre für die ganze Welt. Äquivalent zur kapitalistischen Globalisierung, die Unterschiede der Arbeits- und Lebensverhältnisse ausbeutet und dies mit der erwiesenermaßen nicht zutreffenden Behauptung begründet, es ginge um die Angleichung derselben, wird unterstellt, es gäbe so etwas wie ein gemeinsames Ganzes, das die Geschicke der Menschheit bestimmt. Denkt man an das dieser Tage wieder einmal zur Sprache gekommene Problem des Welthungers, dann stellt man fest, daß man sich nach wie vor auf George Orwells Animal Farm befindet: Einige sind gleicher als die anderen.

Über eine Milliarde Menschen ist mangelernährt, täglich verhungern bis zu Hunderttausend Menschen, doch die "internationale Gemeinschaft" ist nicht einmal willens, die zuständigen Hilfsorganisationen mit den erforderlichen Finanzmitteln auszustatten, um Nothilfe zu leisten. Sie ist unter anderem deshalb, weil sie behauptet, die Rettung des kapitalistischen Systems sei wichtiger als die Rettung Hungernder vor dem Tod, desto weniger gewillt, die von der Welternährungsorganisation (FAO) genannte Summe von 44 Milliarden Dollar jährlich bereitzustellen, um den besonders stark von Nahrungsmittelmangel geschlagenen Ländern unter die Arme zu greifen und zu produktiveren Formen der Landwirtschaft zu verhelfen.

Dem hungernden Sechstel in den Ländern des Südens steht ein weitgehend sattes Sechstel der Menschheit gegenüber, das aus den Bevölkerungen der westlichen Industriestaaten plus Japan besteht. Die im Rahmen der Weltwirtschaftskrise aufgewerteten Schwellenstaaten China, Indien und Brasilien stellen ihrerseits einen Gutteil dieser Hungernden und sind bei noch so hohen Wachstumsraten noch um einiges davon entfernt, ihre wirtschaftliche Produktivität auch machtpolitisch so einzusetzen, daß sie zur "internationalen Gemeinschaft" der Habenden gerechnet werden könnten. Auch wenn das in nationalstaatlichen Kategorien gezeichnete Bild angesichts der in diesen Ländern herrschenden Klassenwidersprüche nur bedingt stimmt, beruht das politische Gewicht, das der "internationalen Gemeinschaft" zugeschrieben wird, nach wie vor auf der nationalstaatlichen Handlungsfähigkeit der westlichen Industriestaaten.

Deren Anspruch, die Regeln und Normen des globalen Gegeneinanders zu bestimmen, basiert auf militärischer und ökonomischer Gewalt. Die Tatsache, daß der tägliche Hungertod zehntausender meist nichtweißer Menschen weniger zählt als etwa der Tod einiger weißer Bürger dieser Staaten bei einem terroristischen Anschlag, dokumentiert die immense Bedeutung, die Hautfarbe und nationale Herkunft nach wie vor für den einzelnen Menschen besitzen. Der soziale Status der Familie, in die er geboren wird und das Land, dessen Bürger er wird, befinden darüber, ob er ein Leben ohne materielle Not führen kann oder im Elend permanenter Verzweiflung untergehen wird.

Der praktische Wert dieser allgemein bekannten Tatsache liegt darin, sie gegen in der EU und den USA propagierte Konzepte politischen Handelns zu halten und den mit diesen verbundenen ethischen Anspruch so wirksam zu negieren, daß das nackte Interesse in Erscheinung tritt. Der nach Preisgabe internationalistischer humanistischer Ansprüche gewählte Rückzug auf vermeintlich nationale Interessen läßt sich auf diesem Wege ebenso widerlegen, ist die innere Kriegführung doch von Anfang an sozial determiniert. Sie richtet sich gegen die überflüssig Gemachten im eigenen Land und gegen die Flüchtlinge aus den Elendsregionen des Südens, die mit martialischen, der äußeren Kriegführung vorgelagerten Mitteln abgewehrt werden.

Wenn die anwachsende staatliche Repression mit der terroristischen Bedrohung begründet wird, dann zeigt sich schnell, daß der Schutz möglicher Opfer von Anschlägen kein Zweck der inneren Aufrüstung sein kann, wenn man mit sehr viel geringerem Aufwand das Leben tausender Menschen retten könnte. Wenn individuelle Freiheiten unter gesundheitspolitischen Vorbehalt gestellt werden, dann zeigt sich anhand der damit, wenn überhaupt, zu vermeidenden Gefahren für Leib und Leben, daß es nicht um die Lebensqualität von Rauchern und Übergewichtigen geht, wenn mit der Bereitstellung medizinischer Grundversorgung für notleidende Bevölkerungen ein Vielfaches an Leben gerettet werden könnte. Wenn Milliarden an Steuergeldern für die Terrorismusbekämpfung am Hindukusch ausgegeben werden, während in diesem Land die durchschnittliche Lebenserwartung mangelbedingt unter 50 Jahren liegt, dann weiß man, daß der hehre Zweck, den Afghanen ein besseres Leben zu ermöglichen, erstunken und erlogen ist.

Es ließen sich zahlreiche weitere Beispiele anführen, mit denen transparent gemacht werden könnte, daß der primäre Zweck der Neuen Weltordnung und der sie bestimmenden "internationalen Gemeinschaft" die Durchsetzung von Interessen ist, von denen lediglich ein geringer Teil der Menschheit profitiert. Der Hunger ist dabei kein widerwillig in Kauf genommenes Problem, sondern Ergebnis einer Mangelproduktion, die dafür sorgt, daß es zu keiner demokratischen Emanzipation der verelendeten Massen kommt. Hätten diese nicht nur mitzubestimmen, sondern befänden sich in der materiell gesicherten Lage, über die Sorge des alltäglichen Überlebens hinauszudenken, dann wären die bestehenden Machtverhältnisse nicht mehr aufrechtzuerhalten. Welthunger und globale Hegemonie sind zwei Seiten einer Münze, die von der Hand eines Oligopols aus Staats- und Kapitalmachtakteuren umklammert wird, denen die wachsende Not Vitalfaktor des eigenen Wohlergehens ist.

18. Oktober 2009