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RAUB/0925: Sozialfeindliches Verkehrsüberwachungssystem in den Niederlanden geplant (SB)



Schon Anfang 2006 erhob der damalige Generalbundesanwalt Kay Nehm die Forderung, die bei der LKW-Maut anfallenden Daten auch für die Strafverfolgung zu nutzen. Zwar behauptete er, es gehe nicht um die flächendeckende Verfolgung von Verkehrssündern oder gar um die Erstellung von Bewegungsprofilen, doch derartige Dementi verweisen zielsicher darauf, warum Beschwichtigung not tut. Wer bei Einführung des elektronischen Abrechnungssystems für den Gütertransport auf der Straße den Verdacht geäußert hat, daß das überwachungstechnisch Machbare auch gemacht wird und alle dagegen gerichteten Gesetze früher oder später Makulatur sind, hörte nicht von ungefähr das Gras wachsen. Nehms Argument, man könne den Opfern von Verkehrsunfällen oder ihren Hinterbliebenen nicht verständlich machen, daß man die gesammelten Daten zwar für Bußgeldverfahren gegen Mautpreller, nicht jedoch bei der Strafverfolgung verwenden könne, ist in seiner potentiellen Entuferung grenzenlos. Wer wollte den Bürgern angesichts der massiv geschürten Angst vor Terrorismus und Kriminalität schon die Nutzung eines System, das vollständige Bewegungsprofile von Kraftfahrern erstellen kann, zur Abwehr dieser Gefahren vorenthalten?

Nehm konnte sich damals nicht durchsetzen, doch seine Forderung steht nach wie vor im Raum und wurde zuletzt vom Vorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Rainer Wendt, anläßlich der Koalitionsverhandlungen der schwarz-gelben Bundesregierung erhoben. Mit dem Plan der niederländischen Regierung, ab dem Jahr 2012 eine generelle Maut einzuführen, die auf der satellitengestützten kilometergenauen Erfassung aller motorisierten Fahrzeuge basiert, kommt man dem Fernziel einer europaweit einheitlichen Verkehrsüberwachung einen großen Schritt näher. Daß nationale Lösungen dieser Art eines Tages auf EU-Ebene harmonisiert werden, ist schon dem anwachsenden Verwaltungsaufwand für verschiedenste Abrechnungs- und Besteuerungssysteme in einem zusehends zusammenwachsenden Verkehrsraum geschuldet. Von entsprechenden Planungen wurde etwa im Zusammenhang mit der für Britannien avisierten Totalüberwachung des Fahrzeugverkehrs in der Tageszeitung The Guardian (31.03.2009) berichtet [siehe POLITIK/KOMMENTAR - REPRESSION/1305].

Anlaß für das in den Niederlanden geplante System soll der dort drohende Verkehrsinfarkt sein. PKWs, LKWs und Busse sollen anhand einer differenzierten Gebührenordnung, der das jeweilige Ausmaß der Belastung zugrundeliegt, die von den Fahrzeugen auf die Verkehrsinfrastruktur und die Umwelt ausgeht, dazu genötigt werden, insgesamt weniger zu fahren und insbesondere Stoßzeiten zu meiden. So soll die jeweilige Tageszeit der Kfz-Nutzung ebenso einem flexiblen Tarif unterliegen wie die Wahl der jeweiligen Straße. In Ballungsgebieten soll der Straßenverkehr generell teurer werden als auf dem Land. Der jeweilige Schadstoffausstoß wird ebenso bemessen wie die jeweilige Größenklasse. Von durchschnittlich 3 Cent pro gefahrenem Kilometer 2012 soll die Mautgebühr schrittweise auf durchschnittlich 6,7 Cent im Jahr 2018 steigen. Lediglich öffentliche Verkehrsmittel, Motorräder, Taxis und Fahrzeuge für Behinderte sollen von der flächendeckenden Maut befreit sein.

Die bereits 2012 einzuführende Satellitentelemetrie basiert auf dem On Board Unit (OBU), mit der LKWs im deutschen Mautsystem ausgestattet sind. Für den Fall, daß Autofahrer nicht mit einer korrekt arbeitenden OBU unterwegs sind, sollen Geldstrafen im fünfstelligen Bereich drohen. Sollte eine OBU aktiv manipuliert werden, ist sogar eine Gefängnisstrafe von bis zu vier Jahren im Gespräch.

Schmackhaft gemacht wird das fünf Milliarden Euro teure Projekt den Niederländern mit dem Streichen der Kfz-Steuer wie der Steuer, die beim Erwerb eines Neuwagens fällig wird. Angeblich sollen Personen, die ihr Auto nicht so häufig benutzen, durch das System mit Kostenersparnissen belohnt werden, während Vielfahrer erheblich mehr Geld ausgeben müssen. Der positive Einfluß einer Verringerung des Schadstoffausstoßes auf die Umwelt soll durch den Ausbau des Nahverkehrssystems, der mit den dabei eingenommenen Mitteln finanziert werden soll, verstetigt werden.

Ein sozialfreundliches öffentliches Verkehrswesen, das insbesondere die Mobilität ärmerer Bürger sichert, steht nicht zur Debatte, weil es den marktwirtschaftlichen Charakter des Systems unterliefe. Die preisgebundene Lenkung des Autoverkehrs entspricht dem sozialhierarchischen Charakter kapitalistischer Gesellschaften, indem sie wohlhabenden Menschen nach wie vor die uneingeschränkte Nutzung des Fahrzeugs ermöglicht, während ärmere Bürger zusehends ausgeschlossen werden. Die Kostendifferenzierung des Straßenverkehrs läuft auf dessen soziale Selektion hinaus. Teure Autobahnen zu jeder Tageszeit zu benutzen bleibt wohlhabenden Bürgern vorbehalten, während ärmere auf Landstraßen und Nebenwege ausweichen müssen, wenn sie sich das Autofahren überhaupt noch leisten können. Vom Wegfall der ein Viertel des Kaufpreises betragenden Steuer für Neuwagen profitieren nur Personen, die sich ein fabrikneues Fahrzeug leisten können, während die Käufer von Gebrauchtwagen keinen Vorteil haben.

Mit der Einführung des niederländischen Systems entsteht also nicht nur eine Überwachungsinfrastruktur, die exakte Bewegungsdaten generiert und absehbar dem Zugriff der Sicherheitsbehörden und Geheimdienste überantwortet wird. Mit dem erheblichem administrativen Aufwand, den es zur minutiösen Erfassung der Bewegungsdaten mehrerer Millionen Fahrzeuge bedarf und der schon aus bürokratischer Eigendynamik heraus Anlaß zu seiner weiteren Nutzung im Sicherheitsbereich geben wird, sorgt man dafür, daß die motorisierte Mobilität zum exklusiven Privileg der Besserverdienenden wird. Der Rest der Bevölkerung wird auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sein, wenn er angesichts der an diese gelegten Rentabilitätskriterien nicht ohnehin von jeglicher Mobilität ausgeschlossen sein wird.

Ginge es um eine umweltfreundliche und soziale Form der Verkehrsentlastung, dann wäre der vor allem auf die Schiene verlegte Transport von Personen und Gütern als kostengünstige und für Erwerbslose und andere Leistungsempfänger kostenlose staatliche Basisdienstleistung die naheliegendste Lösung. In einer EU, die auf eine neoliberale Wirtschaftspolitik eingeschworen ist und von Konzerninteressen beherrscht wird, ist mit einer menschenfreundlichen Überwindung des umweltfeindlichen motorisierten Individualverkehrs nicht zu rechnen.

17. November 2009