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RAUB/0953: Sozialpolitisches Mangelregime zur Sicherung des Standorts Deutschland (SB)



Die Sparklausur ist zu Ende, und das Ergebnis fällt wie erwartet aus. In einem Land, in dem 10 Prozent der reichsten Bürger 60 Prozent des Vermögens auf sich vereinigen, werden vor allem Leistungen im Sozialbereich gekürzt. Hartz-IV-Empfängern wird das Elterngeld gestrichen, sprich auf eine biologische Lösung des Armutsproblems gesetzt. Diese ohnehin sozial selektive, da einkommensabhängige Transferleistung soll den Familien, die am meisten darauf angewiesen sind, nicht mehr zugutekommen, so daß auch der Kinderwunsch für Hartz-IV-Bezieher auf die immer längere Liste unerfüllbarer Wünsche kommt. Die dieser "qualitativen Bevölkerungspolitik", so der Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge zum Elterngeld, innewohnende Logik könnte man auch als ökonomische Eugenik bezeichnen. Das Armutsproblem an der Wurzel packen heißt in der Logik der neoliberalen Arbeitsgesellschaft den Armen die Voraussetzungen dafür zu nehmen, Kinder in die Welt zu setzen, um zu verhindern, daß die Schar potentiell systemüberwindender Menschen anwächst.

Weitere Härten wie die Streichung des Heizkostenzuschusses und des Zuschusses bei der Rentenversicherung für Hartz-IV-Empfänger komplettieren das Bild einer Umverteilungspolitik, die vor allem an den Lebenschancen Erwerbsloser und Erwerbsunfähiger spart. Bei der milliardenschweren Rettung "systemrelevanter" Banken war von Sparen keine Rede. Die Sparpläne der Bundesregierung treffen mithin eine Aussage zur "Systemirrelevanz", sprich der Verzichtbarkeit der davon am meisten Betroffenen. Die Zeche für die bereitwillige Kompensation unauflöslicher Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaft sollen vor allem diejenigen begleichen, die, ob sie es wollen oder nicht, als disponible Verfügungsmasse gesellschaftlicher Produktivität dienen. Dies soll in Anbetracht der unter Leistungsempfängern anwachsenden Not zukünftig in verschärfter Form gelten, ist es doch erklärtes Ziel der Bundesregierung, mit der geplanten Neuordnung der Arbeitsmarktpolitik Jobs für erwerbsfähige Hartz-IV-Empfänger zu schaffen.

Die Refinanzierung des Staates auf Kosten erwerbsarmer Menschen folgt der Rezeptur neoliberaler Austeritätspolitik, von der kein Impuls auf die Binnenwirtschaft ausgeht. Diese wird durch den zusätzlichen Konsumausfall mit deflationären Tendenzen belastet, so daß dem staatlichen Krisenmanagement auch in Zukunft nicht die Gründe für die Einführung repressiver Formen der Sozialkontrolle ausgehen werden. Die Verhältnisse, über die "wir" laut FDP-Chef Guido Westerwelle gelebt hätten, bestimmen sich aus dem Interesse des Kapitals an Standortvorteilen, also niedrigen Steuern für Investoren und niedrigen Arbeitskosten. Lohnabhängige haben tatsächlich unter ihren Verhältnissen gelebt, doch das reicht noch nicht aus, um einer Verwertungslogik zu genügen, die die gewohnten Renditewerwartungen auch in der Krise fortschreiben will.

Wer in der Bundesrepublik nicht zur Kapitalmacht und den ihr zuarbeitenden Funktionseliten gehört, soll deren Interessen nicht nur durch weiteren Verzicht auf soziale Absicherung finanzieren, sondern vor allem durch die davon ausgehende Verfügbarkeit billigster Lohnarbeit. Die von Bundeskanzlerin Angela Merkel beabsichtigte Schaffung von Jobs für erwerbsfähige Hartz-4-Bezieher wird aus gutem Grund nicht an einen Mindestlohn gekoppelt, der die Schaffung südeuropäischer Erwerbsbedingungen in der Bundesrepublik verhinderte. Um die Exportmacht Deutschland mit niedrigen Arbeitskosten zu befeuern, wird das Lohngefälle zwischen Zentrum und Peripherie der EU weiter eingeebnet. Das läßt sich nur durch die Entfachung eines Überlebensdrucks bewerkstelligen, die das durch einen angeblich harmlosen Patriotismus, durch das Beschwören der Nation als Schicksalsgemeinschaft, durch eine Moral soliden Wirtschaftens unter dem Diktat der unsichtbaren Hand des Marktes in seiner Autonomie korrumpierte Subjekt so sehr atomisiert, daß der Gedanke an Solidarität nicht mehr aufkommen kann, weil er vollends im Konkurrenzstreß untergegangen ist.

Griechisch lernen sollen die Bundesbürger ausschließlich zur Unterwerfung unter die hiesige Entsprechung des dort exekutierten Mangelregimes und nicht etwa als Sprache des sozialen Widerstands. Wie die Faust auf das ob dieses Affronts gegen erwerbsarme Menschen noch ungläubig staunende Auge paßt der immer lauter werdende Ruf nach einem Bundespräsidenten Joachim Gauck. Dieser Hoffnungsträger soll als Herold neoliberaler Freiheitsideologie, wie er im Buche der marktfundamentalistischen Glaubenslehre steht, dringend benötigte Ressourcen nationaler Sinnstiftung erschließen. Wem dennoch leise Zweifel ob der Alternativlosigkeit des angekündigten Mangelregimes aufkommen, der soll spätestens beim Hochamt des Fußballs vergessen, daß die Vereinnahmung aller Bürger für die Zukunft Deutschlands der immer gleichen Rezeptur der nationalistischen Einebnung des Klassenantagonismus folgt.

7. Juni 2010