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RAUB/0955: Spardiktate können Stoffproblem des Kapitalismus nicht beheben (SB)



Die Krise der Staatsfinanzen ist durch noch so große Rettungspakete nicht zu bewältigen. Die vorrangige Ausrichtung auf die Wiederherstellung des "Vertrauens" der Kapitalmärkte verpufft im Nirgendwo einer Weltwirtschaftskrise, der die Unterfinanzierung der Banken äußeres Symptom der grundlegenden Akkumulationskrise ist. So hat der Anfang Mai von den EU-Regierungen und dem IWF kurz nach dem ersten Rettungspaket in Höhe von 110 Milliarden Euro für Griechenland aufgespannte Schutzschirm in Höhe von 750 Milliarden Euro, zusätzlich verstärkt durch den Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB, die Investoren unbeeindruckt gelassen. Kreditausfallversicherungen für Griechenland befinden sich auf Rekordniveau, und die Ausfallwahrscheinlichkeit der mit Ramschstatus bewerteten griechischen Staatsanleihen ist die höchste der Welt.

Wie in einem Brennglas erweist sich am Beispiel dieser eher kleinen Volkswirtschaft der Eurozone, daß die drakonischen Sparmaßnahmen zwar den sozialen Konflikt schüren, aber keineswegs auf eine ökonomische Erholung im Sinne wirtschaftlichen Wachstums und damit steigender Steuereinnahmen hinauslaufen. Die immens angewachsene Zinslast der Staatsverschuldung nicht nur Griechenlands, sondern aller EU-Staaten ist direkte Folge der staatlichen Refinanzierung der Banken. Die davon erhoffte Bereitstellung von Krediten für Industrie und Wirtschaft ist weitgehend ausgeblieben, statt dessen fließen die Staatsgelder auf den Finanzmarkt und in die Taschen seiner Akteure. Das Problem der hochproduktiven industriellen Gütererzeugung und der niedrigen Löhne im Dienstleistungsbereich besteht in zu geringer Massenkaufkraft. Verschärft wird es durch die politische Entscheidung, zu Lasten einkommensarmer Menschen zu sparen, die ihr Geld notgedrungen in den Konsum fließen lassen müßten. Daß die Krise dennoch nicht über ihre Alimentierung behoben wird, ist nicht nur der notorischen Bereicherung der Kapitaleigner, sondern auch der Sicherung schwindender Ressourcen geschuldet.

Dieser Sparkurs wurde im Vorfeld des G20-Gipfels in Toronto von der Bundesregierung, der EU-Kommission und dem Europäischen Rat bestätigt. Die Absenkung der Staatsverschuldung durch öffentliche Austeritätsprogramme verschärft die Akkumulationskrise und damit den Klassenkampf, der auf diese Weise ganz zu Lasten der Lohnabhängigen und Erwerbslosen ausgetragen wird. Die europäischen Regierungen suchen Zuflucht in einer Solidität, die für ein auf stetiges Wirtschaftswachstum angewiesenes Verwertungssystem kontraproduktiv ist. Da die dafür erforderliche Expansion auf mehrere Grenzen wie das Sinken der Profitrate, die Verknappung des energetischen Betriebsstoffs, den Klimawandel und den Nahrungsmittelmangel stößt, kann eine Austeritätspolitik, der hauptsächlich den Entzug essentieller Versorgungsleistungen bedürftiger Menschen betreibt, nur zu einer Kontraktion des Gesamtsystems führen, mit der letztlich das Überleben der Kapitaleigner und Funktionseliten zu Lasten in ihren Augen überflüssiger Esser gesichert wird.

Die heftige Reaktion der US-Regierung und US-amerikanischer Wirtschaftsexperten auf die Sparpolitik der EU steht dennoch nicht für eine menschenfreundlichere Alternative, sondern wurzelt im höheren Verschuldungsgrad von Staat, Privathaushalten und Wirtschaft der USA. Wenn die EU dem Kapitalmarkt Geld entzieht, dann wächst die Gefahr, daß die Refinanzierung der US-Volkswirtschaft zusammenbricht. Der Verweis der US-Regierung auf ihre höheren Wachstumsraten kann nicht überzeugen, da die Erwerbslosigkeit in den USA nicht geringer wird, es sich also vor allem um ein durch einen niedrigen Leitzins ermöglichtes Finanzmarktphänomen handelt. Viel entscheidender ist, daß es der Bevölkerung des Landes wirtschaftlich immer schlechter geht. Hunger, Wohnungslosigkeit und Ewerbslosigkeit grassieren, die Schar der materiell Armen wächst so rapide an wie die Einkommen der Spitzenverdiener, während die dazwischen angesiedelte Mittelschicht ausdünnt und ins Elend fällt.

Die in den USA auf besonders brutale Weise durchgesetzte neoliberale Akkumulationspraxis riskiert einen Legitimationsverfall, der hochgradigen Aufwand bei ideologischer Indoktrination, sozialdarwinistischer Konditionierung und sicherheitsstaatlicher Repression der Bevölkerung erfordert. Ihre Durchsetzung im eigenen Land wie ihre weltweite kulturindustrielle Verallgemeinerung ist ein wesentlicher Standortvorteil, der die USA trotz gigantischer Verschuldung zum ökonomischen Garanten letzter Instanz macht. US-Staatsanleihen gelten trotz des weit höheren Verschuldungsgrads als der Griechenlands als sicherer Hafen, weil die führende Militärmacht die ihr zugute kommenden Verwertungsbedingungen im Notfall diktiert. Sie steht für die wirksame Unterdrückung des sozialen Widerstands ebenso wie für die Sicherung eines globalen Ordnungsrahmens, in dem die Bestimmung des Werts, wenn er im Fall eines Systembruchs nicht mehr auf konventioneller kapitalistischer Basis erfolgte, an die aufrechterhaltene Verfügbarkeit essentieller Ressourcen und die Gewährleistung funktionierender Staatlichkeit geknüpft wäre. Diese Kernkompetenz bildet die Substanz des transatlantischen Schulterschlusses, dem sich die EU nicht zum Preis einer ausschließlich an der Sanierung der Staatsfinanzen orientierten Politik entziehen wird, weil auch ihre wirtschaftliche Macht letztlich aus den Gewehrläufen kommt.

Der Streit zwischen USA und EU und das absehbare Scheitern einer wirksamen Regulation des Kapitalmarkts sind Ausdruck der Ausweglosigkeit einer Krise, in der das ganze Ausmaß aufgetürmter Schulden immer stärker an die Oberfläche nicht mehr zu leugnender Fakten drängt. Auch wenn diese Entwicklung eine wieder erstarkende Nationenkonkurrenz zu provozieren scheint, wird die auf globales Krisenmanagement angelegte transatlantische Achse letztlich die Sicherung westlicher Hegemonie gegen die Revolten der Habenichtse gewähren. Die immer wieder beschworene Adaptionsfähigkeit des Kapitalismus endet nicht mit der Widerlegung seines Wachstumsprimats, sondern greift von dort auf unvermittelte Formen des Raubes, auf die Materialisierung des Werts als Gewähr bloßer Existenz, über.

So liegen dem Zangengriff einander bedingender Banken- und Staatsschulden nicht nur Blasen spekulativer Wertschöpfung auf der Grundlage einer ansonsten funktionstüchtigen Realwirtschaft zugrunde. Diese bezieht ihre Dynamik seit jeher aus der ungenügenden Versorgung aller Menschen mit den für ihre Reproduktion erforderlichen Gütern und Dienstleistungen. Ohne substantiellen Verlust an Lebenssicherheit ließe sich der Wert des Tauschäquivalents Geld nicht auf eine Weise bestimmen, die seine Vervielfältigung ohne überprüfbare Rückbindung an die ihm zugrundeliegende materielle Arbeit möglich machte. Daß deren Ertrag nur einen Bruchteil des am Ende der Wertschöpfungskette erwirtschafteten Zahlungsversprechens ausmachen kann, ist Ergebnis eines mangeldeterminierten Gewaltverhältnisses, das durch die objektiven Grenzen materieller Reproduktion eine neue Qualität der Krisenbewältigung erfordert.

Die sozial gerechte Verteilung des gesamtwirtschaftlichen Produkts widerspricht dem Verwertungsprimat des Kapitals nicht nur, weil es ihm den Motor seiner Akkumulation, die Maximierung des Zinses, entzöge. Das dabei zutage tretende Stoffproblem würde schnell zeigen, daß die Überwindung des kapitalistischen Weltsystems unausweichlich ist. Die schwindende Verfügbarkeit ertragreicher Böden, trinkbaren Wassers und fossiler Brennstoffe bei fortschreitendem Klimawandel, der die am realen humanen Bedarf und nicht an der Rentabilität orientierte Bereitstellung von Nahrungsmitteln und Trinkwasser noch prekärer macht, als es durch den ohnehin gegebenen, die unzureichende Versorgung von einem Sechstel der Menschheit in Kauf nehmenden Verbrauch der Fall ist, klärt hinlänglich darüber auf, warum die militärische Absicherung des Ressourcenverbrauchs einen immer höheren Anteil der Kosten ihrer Erwirtschaftung verschlingt.

Der in der Weltwirtschaftskrise zutage tretenden Ungedecktheit des größeren Teils der finanzwirtschaftlich generierten Kapitalmenge durch Sparprogramme entgegenzutreten ändert nichts an der Unvereinbarkeit egalitärer materieller Lebenssicherung mit kapitalistischer Akkumulation. Wo sich kein dem existenzsichernden Interesse aller Menschen äquivalenter Ertrag produzieren läßt, weil der Stand der Produktivkraftentwicklung den Anteil menschlicher Arbeit an der industriellen Güterproduktion weiter sinken läßt und die dadurch verringerte Profitrate das Ausweichen in Dienstleistungen und andere Erwerbsformen nur unter minimaler Entlohnung möglich macht, bedingt die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Akkumulationsregimes die Ausschließung anwachsender Menschenmengen von jeglicher Lebenssicherheit. Was sich mit den Spardiktaten zur Krisenbewältigung und dem zunehmenden Elend in den Ländern des Südens ankündigt, ist die Sanierung des herrschenden Verwertungssystems zu Lasten all derjenigen, die nicht in der Lage sind, einen Platz in seinen Produktions- und Reproduktionssphären zu erobern.

25. Juni 2010