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RAUB/1007: Sozialer Massenprotest in Israel am Scheideweg (SB)



Nach den größten Sozialprotesten in der Geschichte Israels, an denen sich Medienberichten zufolge zuletzt landesweit rund 450.000 Menschen beteiligten, steht die Bewegung am Scheideweg. Von den Organisatoren bislang als Sammelbecken aller Unzufriedenen konzipiert und unter ausdrücklicher Ausblendung jeglicher ideologischen Unterschiede und insbesondere des Nahostkonflikts auf die Straße gebracht, stößt das Aufbegehren an ebendiese Grenzen selbstauferlegter politischer Zurückhaltung. Die Forderung nach einer gerechteren Gesellschaft entsprang einer unzufriedenen und von sozialem Abstieg bedrohten Mittelschicht. Daher liegt nahe, daß sich der Protest mit Versprechen und geringfügigen Zugeständnissen, die den eigenen Vorteil im gesamtgesellschaftlichen Kontext wiederherzustellen scheinen, zufriedengibt und beschwichtigen läßt. Nicht auszuschließen ist andererseits, daß ein kleiner, aber entschiedener Teil der Bewegung die Auseinandersetzung führt, auf die das Verlangen nach einer materiell gesicherten und menschenwürdigen Existenz längst gestoßen ist.

Die soziale Frage Israels ist untrennbar mit der Positionierung des Staates als militärische Speerspitze westlicher Hegemonialinteressen in dieser Weltregion verschränkt. Sowohl die Kriegführung gegen konkurrierende Regionalmächte als auch die permanente Unterwerfung der Palästinenser wird mit Militärhilfe und Rüstungstransfers in Milliardenhöhe seitens der USA, aber auch Deutschlands und anderer europäischer Staaten finanziert. Zugleich verschlingt der Militärhaushalt erhebliche Teile des Steueraufkommens, die mithin anderen staatlichen Aufgaben entzogen werden. Hinzu kommt die hohe Subventionierung des unablässigen Landraubs in Gestalt der Siedlungen, die mit günstigem Wohnraum, erstklassiger Infrastruktur und bevorzugter Sicherheitslage locken. Wer soziale Gerechtigkeit fordert, kann nicht umhin, sich mit diesen Grundfesten israelischer Staatsdoktrin zu befassen.

Deutlich zutage trat im Verlauf der Massenproteste auch die extreme Ungleichverteilung der gesellschaftlich erwirtschafteten Leistung zugunsten einer reichen und mächtigen Minderheit weniger Familien, die weite Teile der Produktion kontrollieren. Die Fortschreibung steigender Profite wurde mit einer rigorosen Privatisierung befeuert, die ein ansehnliches Wirtschaftswachstum generierte, doch zugleich die soziale Polarisierung vorantrieb. Die von der Protestbewegung erhobene Forderung an den Staat, er solle sich seiner Verantwortung stellen und die Versorgung der Bürger garantieren, greift zwangsläufig zu kurz, sofern sie sich im Ruf nach einer Rücknahme allzu krasser Auswüchse der Umverteilung von unten nach oben bescheidet. Angesichts der weltweiten Systemkrise kapitalistischer Verwertung wäre es schon im Ansatz illusorisch, von einer im Kern florierenden Volkswirtschaft auszugehen, die lediglich einiger sozialen Korrekturen bedarf.

Und nicht zuletzt muß sich der Sozialprotest seiner Position zu jenem erheblichen Anteil der Bevölkerung stellen, der in Armut lebt. Wenngleich es längst nicht nur arabischstämmige Bürger Israels sind, die darunter fallen, ist ihr hoher Prozentsatz doch symptomatisch. Auch an dieser Stelle läßt sich die Lage der Palästinenser in den besetzten und kontrollierten Gebieten nicht länger ausklammern, auf deren Rücken die israelische Gesellschaft ihr Gedeihen befördert. Gebieten schon Humanität und Eintreten für die Schwachen den Blick über den Zaun, so stößt jede entschlossen vorangetriebene Kritik an den sozialen Verhältnissen in Israel unvermeidlich auf deren untrennbare Verwurzelung im spezifischen Verhältnis zu palästinensischen Interessen.

Sollte sich die palästinensische Führung nicht im letzten Augenblick davon abbringen lassen, die Anerkennung ihres Staates am 20. September vor die Generalversammlung der Vereinten Nationen zu tragen, sind Massendemonstrationen der Palästinenser und repressive Strategien der israelischen Sicherheitskräfte wie auch administrative Zwangsmittel zu erwarten. Diese Entwicklung konfrontiert den Sozialprotest in Israel unvermeidlich mit einer zweiten Bewegung, die er nicht ignorieren kann. Im Zuge dieser Auseinandersetzung wird sich erweisen, wes Geistes Kind die Politisierung der sozialen Massenbewegung inzwischen ist.

Da zu befürchten stand, daß der Anschlag im Süden des Landes und die nachfolgenden Luftangriffe auf Ziele im Gazastreifen wie auch der Raketenbeschuß israelischer Städte die Sicherheitsfrage in den Rang absoluter Priorität zurückholen würde, war die Teilnehmerzahl beim jüngsten Sozialprotest überwältigend. Auch wenn die erhoffte Zahl von etwa einer Million Menschen nicht erreicht wurde, unterstrich die enorme Beteiligung in einem Land von nur 7,7 Millionen Einwohnern erneut, daß der Protest längst breite Bevölkerungsschichten erreicht hat. Der Vorsitzende des nationalen Studentenbundes, Itzik Schmueli, sprach am Samstagabend vor rund 300.000 Teilnehmern der größten Einzelkundgebung in Tel Aviv. Auf einem Transparent stand: "Das Land, in dem Milch und Honig fließen, aber nicht für jeden". Die Forderungen sind inzwischen umfassender geworden. Die Demonstranten kritisieren nicht mehr nur das Wohnungsproblem, sondern auch die Lebensmittelpreise, die Gesundheitsversorgung, das Bildungssystem und vor allem die Steuerlast. Generell wird eine stärker lenkende Rolle des Staates verlangt. Sprecher der Protestbewegung bezeichneten es als Riesenerfolg, daß so viele Menschen dem siebten Aufruf in Folge zu den Samstagsprotesten gefolgt seien. Große Demonstrationen wurden auch aus Jerusalem, Haifa und Afula gemeldet. [1]

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der die neoliberale Offensive in der Vergangenheit maßgeblich vorangetrieben hatte, setzte Anfang August unter dem Eindruck des Massenprotests ein Expertenteam unter Leitung des ehemaligen Vorsitzenden des Nationalen Wirtschaftsrats, Professor Manuel Trajtenberg, ein. Wie Netanjahu am Sonntag erklärte, sehe sich seine Regierung zu echten Veränderungen verpflichtet, um die hohen Lebenshaltungskosten zu senken und soziale Ungerechtigkeiten auszugleichen. Das Expertenteam werde binnen zwei Wochen "ernsthafte Empfehlungen zu Veränderungen" vorlegen. Allerdings hat die Regierung längst unterstrichen, daß nicht alle Forderungen der Demonstranten erfüllt werden könnten. "Es müssen Prioritäten gesetzt werden", erklärte ein Regierungssprecher im Rundfunk. Die Regierung werde den Rahmen des Haushalts nicht sprengen. [2]

Angesichts der Unmöglichkeit, irgendeine nennenswerte Reform im Rahmen des beschlossenen Haushalt auf den Weg zu bringen, stellt sich für die Protestbewegung die Frage, welchen Sinn die Beteiligung an der Arbeit des Expertenteams macht. Die Organisatoren des Protests haben bereits angekündigt, daß das Zeltlager im Laufe der nächsten Tage abgebrochen wird und man in ein neues Stadium übertrete. Die Führung des Studentenbundes hat zur Kooperation mit der Trajtenberg-Kommission aufgerufen. Nach den Worten Schmuelis hat die Bewegung einen sehr hohen Gipfel erreicht, der nun zu Dialog und Erfolgen führen müsse. Hingegen lehnen Daphne Leef und andere Mitglieder der informellen Führung der Protestbewegung die Zusammenarbeit mit dem Expertenteam ab. [3]

Die Atmosphäre bei den Kundgebungen war wie schon an den früheren Wochenenden äußerst friedlich und hatte Volksfestcharakter. In Tel Aviv mischten sich Musikgruppen, Pantomimen und Schauspielergruppen unter die Demonstranten, die mit Tröten, Kochtopfschlagen und Gesängen ihren Forderungen Nachdruck verliehen. Viele der Teilnehmer waren mit Kindern unterwegs. Fernsehkommentatoren hoben anerkennend hervor, daß bei den Luxusläden, die den weiträumigen Platz säumen, nicht eine einzige Fensterscheibe zu Bruch gegangen sei. Daphne Leef, die Mitte Juli das erste Zelt auf dem Rothschild Boulevard errichtet und damit die Massenbewegung ausgelöst hatte, bezeichnete den Umstand, daß ihre Generation aufgestanden sei und die Stimme erhoben habe, als "nichts weniger als ein Wunder - das Wunder des Sommers 2011". [4]

Das politische Establishment hatte zu Beginn des Protests herablassend erklärt, man solle den Kindern der Mittelschicht ihre Spielwiese lassen, da sie zum Ende der Sommerferien die Lust verlieren und ihre Zelte freiwillig abbrechen würden. Wenngleich solche Äußerungen angesichts des Massenprotests später tunlichst vermieden wurden, muß die Bewegung nun den Beweis antreten, daß das taktische Kalkül der Regierung Netanjahu tatsächlich einer Fehleinschätzung entsprang. "Dieser Platz ist gefüllt mit den neuen Israelis, die für dieses Land sterben würden, aber von Ihnen, Herr Premierminister, erwarten, daß sie uns in diesem Land leben lassen", rief Studentenführer Itzik Schmueli von der Bühne auf dem Kikar Hamedina in Tel Aviv der riesigen Menschenmenge zu. Mag sein, daß das Bekenntnis, die junge Generation sei bereit, für das Land zu sterben, in Israel aufgrund seiner Geschichte eine spezifische Bedeutung hat, die man nicht auf die Goldwaage legen sollte. Dennoch muß man der Protestbewegung ins Stammbuch schreiben, daß sie noch einen langen und dornigen Weg der Emanzipation zu beschreiten hat, sollte dieses Bekenntnis zum Staat und dessen unbedingter Verteidigung im Abgleich mit einer gesicherten Existenz tatsächlich der Konsens hinsichtlich ihrer eigenen Positionsbestimmung sein.

Fußnoten:

[1] http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-09/Israel-Sozialreform-Proteste

[2] http://newsticker.sueddeutsche.de/list/id/1201174

[3] http://www.stern.de/politik/ausland/proteste-in-israel-450000-demonstrieren-fuer-reformen-1723884.html

[4] http://www.nytimes.com/2011/09/04/world/middleeast/04israel.html

5. September 2011