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RAUB/1042: Mehr Menschen in die Forschung ... als medizinisches Testobjekt (SB)




Die Absicht der EU-Kommission, die medizinische Forschung an Menschen zu deregulieren, paßt ins Bild eines Kapitalismus, der die Grenzen äußerer Expansion zusehends dadurch kompensiert, daß er die Ausbeutung des Menschen nicht nur durch Arbeit, sondern im direkten Zugriff auf seine Leiblichkeit intensiviert. Fungierte die bioethische Regulation der medizinischen Forschung an nichteinwilligungsfähigen Patienten auch als Feigenblatt eines Nutzungsinteresses, das auf Kriegsfuß mit dem ärztlichen Ethos, einem Patienten niemals Schaden zuzufügen, steht, so markiert der Schritt in die Umgehung dieser Kontrollinstanz den Weg in einen utilitaristischen Sozialethos, der die Interessen einzelner pragmatisch gegeneinander abwägt. Da dies auf dem Boden der Eigentumsordnung geschieht, wird der größere Nutzen stets auch in einem pekuniären Sinne bestimmt. Wo der Mensch "unproduktiv" bleibt, weil er aufgrund körperlicher oder geistiger Schwäche keiner Erwerbstätigkeit nachgehen kann, da bietet sich an, daß er seine angebliche Schuld an der Gesellschaft durch biologische Leistungen abträgt.

Die finstere Vision einer sozialdarwinistischen Gesellschaft, in die der einzelne mit der Hypothek geboren wird, unter allen Umständen die Kosten seiner Reproduktion zu tragen, nimmt ihre Anfänge in jener Logik jener Bezichtigung, laut der der Homo oeconomicus an jeglicher Misere, die er erleidet, zumindest eine Teilschuld trägt. Da es unter der Maxime des "arbeitenden", angeblich aus sich selbst heraus Wert schöpfenden Geldes praktisch selbstverständlich geworden ist, daß das Kapital seine Gewinne privatisiert und seine Kosten sozialisiert, soll über Menschen, deren gesamtes Eigentum in dem Vermögen besteht, körperliche Arbeit verrichten zu können, eben auch dann verfügt werden, wenn sie zu diesen Kosten beitragen, anstatt das angebliche Privileg gesellschaftlicher Partizipation durch mehrwertproduzierende Lohnarbeit zu begleichen.

Wenn die EU-Kommission in einem Vorschlag zu einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zu klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln vom 17. Juli unter anderem verlangt, daß "insbesondere der erwartete therapeutische Vorteil und Nutzen für die öffentliche Gesundheit gegen das Risiko und die Unannehmlichkeiten der Probanden abgewogen werden" [1], dann hat sie damit eine Blaupause für Menschenexperimente großen Stils verfaßt. Eine solche Abwägung kann den davon Betroffenen nur zum Schaden gereichen, denn sie hebelt das Prinzip, gerade dies nicht willkürlich zu tun, explizit aus. Bezeichnenderweise erhält dieser Tage das Pendant dieser utilitaristischen Abwägung im Bereich der Strafverfolgung anhand eines Films über den Frankfurter Mordfall Jakob von Metzler neue Aufmerksamkeit. Die Frage, ob im "übergesetzlichen Notstand" nicht doch ausnahmsweise gefoltert werden dürfe, ist längst nicht vom Tisch, sondern drängt auf eine positive Beantwortung.

Den Menschen dem Interesse der medizinischen Forschung auszusetzen erfolgt stets mit dem hehren Ziel, dadurch seine Lebensmöglichkeiten zu verbessern und zu erweitern. Wenn Impfexperimente an mittellosen Afrikanern unter dem humanitären Vorwand vollzogen werden, auf diese Weise hätten sie immerhin die Chance zu gesunden, während sie ansonsten ohne jede Hilfe auf der Strecke blieben, dann hat man ein Beispiel für utilitaristische Ethik in praktischer Anwendung. Wer am Ende als Proband dafür herhalten muß, daß anderen mit gut getesteten und für sicher befundenen Medikamenten geholfen werden kann, darüber entscheidet vor allem die Verfügungsgewalt über ein Kapital, dem es im Wortsinne gleichgültig ist, wo und wie es sich verwertet. Dies tut es natürlich auch im hochprofitablen Sektor der Life Sciences, der um so mehr abwirft, als zahlungsfähige Nachfrage besteht. Wo dies nicht der Fall ist, kann die Gegenleistung erwartet werden, sich als Testobjekt in einer Laboranordnung zur Verfügung zu stellen.

Denkt man diese Entwicklung weiter etwa unter dem Vorhaben der informationstechnischen Erfassung aller Patientendaten durch das System der E-Card [2], der mit Sanktionen drohenden Maßregelung Versicherter, ihre Lebensführung nach den biopolitischen Forderungen des Gemeinwesens auszurichten, oder der Bestrebungen, die Pflicht zur eindeutigen Feststellung des Todes vor der Entnahme von Organen für die Transplantationsmedizin aufzuheben [3], dann kann die Dystopie der "Schönen neuen Welt", mit der Aldous Huxley das positivistische Nützlichkeitsprimat der Sozialingenieure seiner Zeit aufs Korn nahm, kaum mehr als abwegige Fantasterei verworfen werden. Medizin- und Wissenschaftskritik, einst eine Domäne des emanzipatorischen Angriffs auf die Bastionen herrschaftsichernder Legitimation, brach liegen zu lassen könnte sich als verhängnisvolle Unterschätzung zentraler Kompetenzen administrativer Verfügungsgewalt erweisen.

Fußnote:

[1] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/europaeische-plaene-rueckfall-in-mittelalterliche-forschungsethik-11900958.html

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0rb0010.html

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/report/m0rb0009.html

25. September 2012