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RAUB/1043: Die sozialeugenische Gesellschaft macht Behinderten das Leben schwer (SB)




Der Angriff auf einen 31jährigen Hertha-Fan mit Down-Syndrom am 26. September nach einem Fußballspiel auf einem S-Bahnhof in Berlin [1] ging zwar nicht tödlich aus, wird jedoch aufgrund des Versuchs, das Opfer mit seinem Schal zu erwürgen, von der Polizei als versuchte Tötung verfolgt. In mindestens einem weiteren Fall wurden Behinderte dieses Jahr zum Ziel körperlicher Angriffe. Ein geistig Behinderter und ein Gehörloser wurden im Mai in Halle von sechs Nazis zusammengetreten [2]. Feindseligkeiten gegen Behinderte nicht nur von Personen, die sich die NS-Eugenik von einem "gesunden Volkskörper", der durch "Ballastexistenzen" in seiner genetischen "Reinheit" wie ökonomischen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt würde, zu eigen machen, nehmen auch in anderen EU-Staaten zu. Wie die britische Tageszeitung The Guardian im Mai 2011 [3] berichtete, erbrachte eine Umfrage unter Behinderten, daß diese Gruppe auf der Straße in anwachsendem Maße mit Vorwürfen, Beleidigungen und sogar körperlichen Attacken konfrontiert sei. Diese Situation verschärfte sich in Britannien nach dem Beginn einer Sozialhilfereform, mit der die britische Regierung versucht, massive Kürzungen gegen Behinderte durchzusetzen, indem sie als arbeitsfähig deklariert werden.

Diese Politik wurde und wird von einer Medienkampagne begleitet, die Behinderten pauschal Sozialmißbrauch unterstellt, obwohl die dazu verfügbaren Daten des Sozialministeriums eine Rate von weniger als einem halben Prozent an ungerechtfertigter Inanspruchnahme von Sozialtransfers erbrachten. Dies ist jedoch nur der auf die Spitze der sozialdarwinistischen Konkurrenzdoktrin gebrachte Ausdruck einer generellen Feindseligkeit gegen Menschen, die nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten, und daher auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Wenn die schwächsten Mitglieder einer Gesellschaft trotz ihrer verfassungsrechtlichen Gleichstellung zum Ziel der Anschuldigung werden, auf Kosten der lohnarbeitenden Bevölkerung zu leben, dann erfüllen sie die Funktion des Sündenbocks für diejenigen, die von der sich verschärfenden sozialen Widerspruchslage am meisten profitieren.

Die besondere Betroffenheit behinderter Menschen wird allerdings verstärkt durch eine eugenische Lebenswertideologie, die den Anspruch der neoliberalen Marktwirtschaft auf die Verfügbarkeit des Menschen auf ganz körperliche Weise artikuliert. Wer nicht über eine mangelgestählte und schmerztolerante Physis verfügt, die durch eine enthaltsame und disziplinierte Lebensführung nach Maßgabe der herrschenden Gesundheits- und Schönheitsnorm den Beweis vorauseilender Leistungs- und Anpassungsbereitschaft führt, der macht sich willkürlicher Obstruktion nicht etwa nur am eigenen Körper, sondern an den reproduktiven Normen des Gemeinwesens verdächtig. Die in der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft immer im Raum stehende Schuldfrage wird dabei zusehends zu Lasten angeblich nicht genügend für den eigenen Anteil am gesamtgesellschaftlichen Produkt sorgender Menschen beantwortet.

Was in Britannien in aller Deutlichkeit mit der Bezichtigung durchgesetzt wird, seit Jahren als arbeitsunfähig diagnostizierte Menschen seien nicht so leistungsunfähig, als daß man sie nicht auf diese oder jene Weise ökonomisch verwerten könnte, wird hierzulande derzeit noch auf moderatere Weise zum Problem individueller Lebensführung erhoben. Verlangt wird, der Enthaltsamkeit von Genußmitteln und Nahrung wie der Anstrengung in Arbeit und Sport auf eine Weise Rechnung zu tragen, die dem Gemeinwesen auch in Zukunft eventuell auftretende Kosten erspart. Von Eltern, die laut humangenetischer Diagnose mit erhöhter Wahrscheinlichkeit ein behindertes Kind zur Welt bringen könnten, wird immer offener verlangt, dieses Risiko entweder durch künstliche Befruchtung zu minimieren oder nach Feststellung eines Erbschadens durch vorgeburtliche Diagnostik eine Abtreibung durchzuführen. Werdende Mütter werden unter Druck gesetzt, kein Kind auf die Welt zu bringen, das nicht der Norm funktionaler Gesundheit genügt. Der gleichen utilitaristischen Logik gemäß werden alternde Menschen von der Doktrin eines angeblich selbstbestimmten Sterbens bedroht, das dem Unbehagen ihrer Umgebung an ihrem vermeintlich sinnlosen Dasein unverhohlen Geltung verschafft.

Auf diese Weise bricht sich eine soziale Eugenik Bahn, die Menschen, die sich ihr nicht unterwerfen, sondern ihr Leben so unabhängig und selbstbestimmt wie möglich leben wollen, auch wenn es im Urteil anderer minderen Werts sei, zum Objekt einer allemal eliminatorischen Feindseligkeit macht. Zwar ist man sich einig über den verhängnisvollen Charakter jeglicher Rasseideologie, doch scheint die Praxis der eugenischen Bevölkerungspolitik des NS-Staates längst nicht jene abschreckende Wirkung entfaltet zu haben, daß man ihren Anfängen entgegenträte, wo man nur auf sie trifft. In Britannien wirkt sich die gegen Kranke und Behinderte gerichtete Sparpolitik der Regierung längst in einem Anstieg der Todesraten unter denjenigen Betroffenen aus, die aufgrund ihrer angeblichen Arbeitsfähigkeit Leistungskürzungen hinnehmen müssen [4]. Körperliche Angriffe auf Behinderte mögen hierzulande noch Einzelfälle sein, doch sie tragen dem gleichen sozialdarwinistischen Kalkül Rechnung, dem anderen das Leben nicht zu gönnen, weil die eigenen Chancen durch seinen Niedergang vermeintlich erhöht werden.

Fußnoten:

[1] http://www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-justiz/s-bahnhof-olympiastadion-behinderter-hertha-fan-fast-erwuergt-polizei-sucht-zeugen/7220716.html

[2] http://www.mz-web.de/servlet/ContentServer?pagename=ksta/page&atype=ksArtikel&aid=1334258324040

[3] http://www.guardian.co.uk/society/2011/may/14/disabled-face-increasing-hostility-strangers

[4] http://blogs.mirror.co.uk/investigations/2012/04/32-die-a-week-after-failing-in.html?utm_source=twitterfeed&utm_medium=twitter

5. Oktober 2012