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RAUB/1045: Sozialeugenische Forschung nimmt Maß am neuen Menschen (SB)




Zu behaupten, humangenetische Manipulationen des menschlichen Erbgutes dienten allein dem Wohl der Patientin, ist schlichtweg unglaubwürdig. Was derzeit zur Verhinderung mitochondrialer Erkrankungen und zur Behandlung von Unfruchtbarkeit bei Frauen in Britannien [1] erforscht wird, kann die Handschrift eugenischen Denkens nicht verleugnen. Eingriffe in Embryonen, bei denen Erbmaterial verschiedener Menschen miteinander kombiniert werden, um bestimmte genetische Entwicklungen auszuschließen oder zu fördern, setzen Erkenntnisse über die Bedingungen werdenden Lebens frei, die weit über die vorgeblichen Zwecke hinausgehen. Die in den 1990er Jahren um die Klonierung von Erbmaterial am Beispiel des Schafes Dolly entbrannte Debatte über die Frage, inwiefern es Forschern und Medizinern freigestellt werden sollte, nicht nur ungewünschte Ergebnisse der biologischen Reproduktion durch selektive Verfahren zu verhindern, sondern die menschliche Form aktiv zu manipulieren, scheint endgültig zugunsten letzterem beantwortet zu sein.

Der angebliche medizinische Nutzen steht dabei in krassem Widerspruch zum sozialeugenischen Charakter einer Regierungspolitik, die die Geburtenrate unter sozial schwachen Familien begrenzen will, indem diese keinen Anspruch auf staatliche Hilfe mehr geltend machen können, oder die Behinderten Sozialleistungen streicht, wenn sich mittels einer brutalen Evaluationspraxis auch nur der geringste Verdacht erwirtschaften läßt, daß sie noch auf irgendeine Weise Lohnarbeit verrichten könnten. Den Menschen nicht um seiner selbst willen leben zu lassen, sondern seine biologische Form den Maßgaben einer an funktionellen Kriterien orientierten Gesundheitsdoktrin zu unterwerfen, ist der biomedizinische Ausdruck einer herrschaftlichen Organisation der Gesellschaft, die aus gutem Grund als faschistisch verworfen wird.

So muß das kapitalistisch vergesellschaftete Subjekt nicht nur seine Arbeitskraft zu immer nachteiligeren Bedingungen anbieten, es wird auch dazu genötigt, die dazu erforderlichen Voraussetzungen zu eigenen Lasten verfügbar zu machen. Neben dem "lebenslangen Lernen", das nichts anderes meint als die instrumentellen Anforderungen technologischer Herrschaft zu erfüllen, wird auch die körperliche Konstitution immer mehr auf die Kriterien ihrer Verwertbarkeit hin überprüft. Fitness, Schönheit, Gesundheit sind die Ideale der ökonomischen Leistungsfähigkeit eines Individuums, das die Inspektion durch die Augen der anderen in Schule und Job, im Familien- wie Freundeskreis so sehr verinnerlicht, daß der dadurch ausgeübte Zwang nicht mehr als solcher empfunden wird. Diese durch ein medizinaltechnokratisches Evaluations- und Sanktionsregime verallgemeinerten Normen greifen so tief in die Lebensführung eines jeden ein, daß zum ganz persönlichen Anliegen erklärt wird, was fremden Interessen entspringt.

Die Kampagnen gegen Tabakkonsum, Fettleibigkeit oder Bewegungsmangel sind, so sinnvoll solche Maßnahmen für den einzelnen Menschen sein können, wenn er sie als seinem leiblichen Wohlbefinden zuträglich empfindet, Ausdruck einer biopolitischen Reglementierungen der Bevölkerung, die der einzigen Freiheit, die die kapitalistische Gesellschaft ernst nimmt, die Zurichtung ihrer Insassen zur optimalen Verwertbarkeit, zur Durchsetzung verhelfen soll. Die Freiheit, zur persönlichen Entwicklung unerläßliche Fehler oder Erfahrungen negativer Art zu machen, die Freiheit, sich den propagierten körperästhetischen und geschlechtsspezifischen Normen nicht zu unterwerfen, die Freiheit, von dieser Gesellschaft nichts wissen oder sie gar abschaffen zu wollen, widersprechen dem Credo eines Liberalismus, der nicht nur im Fall der neuen Keimbahntherapien die Freiheit der Wissenschaften vorschützt, um Mittel und Wege zu erkunden, den Wildwuchs unkontrollierbarer Subjektivität auszurotten.

So werden unter dem Vorzeichen, man wolle den Menschen doch nur zu einem besseren Leben verhelfen, dort, wo noch bezahlbare Nachfrage nach medizinischen Leistungen existiert, mit großem finanziellen und apparativen Aufwand wahre Wunderwerke biotechnologischen Könnens geschaffen, während dort, wo der Mensch bezichtigt wird, sein Dasein als unnützer Kostgänger des Gemeinwesens zu fristen, nicht einmal mehr materielle Grundbedürfnisse befriedigt werden. Dem humangenetischen Zugriff auf das Erbgut wird mit den Argumenten einer utilitaristischen Bioethik der Weg gebahnt, deren Klassencharakter sich in der Definitionsmacht darüber ausdrückt, was dem größeren Ganzen am meisten zuträglich sei.

Ein eigenes, zumindest teilweise aus eigenem Erbgut stammendes Kind - wenn nötig noch in hohem Alter - in die Welt zu setzen, anstatt zumindest einigen der Millionen notleidenden Kinder in aller Welt einen Ausweg aus ihrem Schicksal durch Adoption zu ermöglichen, ist Ausdruck eines dynastischen, die eigene Blutlinie zum Qualitätsmerkmal erhebenden Klassenprimats. Dabei geht es nicht darum, Menschen zu befähigen, ein Leben unbeeinträchtigt von fremden Forderungen und Verpflichtungen zu führen, sondern ihnen den Stempel eines Vermächtnisses aufzudrücken, das dem vermeintlich unverwechselbar Eigenem dauerhafte Existenz verleihen soll. Der Eigentumsanspruch wird mit biotechnologischen Mitteln in die kleinste Zelle getrieben, um ihn nicht nur gesellschaftlich und rechtlich, sondern auch biologisch zu verankern. Humangenetik und Reproduktionsmedizin sind Schlüsseltechnologien für den Klassenkampf von oben, denn dieser wird nicht nur über die Maximierung der Kapitalakkumulation, sondern auch über die Verfestigung von Klassenschranken und die Sicherung des Bestandes neofeudaler Eliten geführt.

Fußnote:

[1] http://www.zeit.de/2012/44/Keimbahn-Therapie

25. Oktober 2012