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RAUB/1070: Verzweifelte Fluchten stören den Frieden des Verzehrs (SB)




Wer gesteht sich schon gerne ein, daß das eigene Wohlleben mit Menschenopfern an anderer Stelle erkauft wird. Die europäische Flüchtlingsabwehr bringt das Ertrinken Tausender Flüchtlinge im Mittelmeer auf die kurze Formel, daß niemand der Betroffenen eingeladen wurde, jeder also selbst dafür verantwortlich sei, wenn er sein Leben in nicht seetüchtigen und überfüllten Booten riskiert. Das Credo der liberalen Gesellschaft sorgt selbst dort, wo schon die Voraussetzung jeglicher Freiheit, die materielle Befriedigung elementarer Bedürfnisse, nicht gegeben ist, für moralische Entlastung. Wenn die Wahl zwischen Verhungern und Ertrinken, wie diese Woche geschehen, Massentragödien hervorbringt, dann wird mitunter ein sich menschlicher gebender, versöhnlicher Ton angeschlagen. So entwirft ein Kommentator der Tageszeitung Die Welt die schöne Utopie einer besseren Welt, um diese mit einer Ratio, die keiner Begründung außer der vermeintlich unausweichlichen Sachzwanglogik bedarf, als unrealistische Wunschvorstellung zu verwerfen:

"Sie sähe vor, die Grenzen und Küsten für all die Entrechteten und Hungernden, Verzweifelten und Vertriebenen offen zu halten, die in Europa Frieden, Freiheit, Wohlstand oder auch nur Rast und Ruhe suchen. Schön wäre es, wenn es ginge, doch es geht nicht". [1]

Die entschiedene Bewältigung jedes Versorgungsmangels von der Ernährung bis zur medizinischen Versorgung, eine Welt ohne Waffen und Kriege, ja die Aufhebung der Eigentumsordnung - es geht nicht. Wer immer "es" ist und was immer kommt und geht, die Nutznießer der Ordnung des Lebens und Sterbens haben nichts damit zu tun, daß dem Menschen, dessen ausgezehrter Körper noch gerade in der Lage ist, den Schmerz in vorübergehende Bewußtlosigkeit zu fliehen, auch noch ein Fußtritt verpaßt wird.

Unüberwindliche Sachzwänge zu beschwören, um notleidende Menschen sehenden Auges sterben zu lassen, dient nicht zur notdürftigen Rettung vermeintlich unkorrumpierbarer universaler Werte. Damit hat der Mensch, der den anderen ausschließlich als Behinderung bei der Durchsetzung eigener Interessen, als Konkurrent um nie zureichende Ressourcen und Feind bis aufs Blut unvereinbarer Besitzansprüche erlebt, kein Problem. Ihm geht es darum, in der Deckung bester Absichten den strategischen Vorteil zu erwirtschaften, der im monolithischen Universum sozialdarwinistischer Dezision den kleinen Unterschied zwischen Überleben oder Unterliegen machen kann.

Wenn Elias Bierdel, Vorstandsmitglied bei borderline-europe, im Deutschlandfunk [2] nahelegt, daß die Flüchtlingsbewegungen im Mittelmeer durchaus im Blick nationaler und internationaler Behörden stehen, also vermutet werden kann, daß die vielen auf diesem Fluchtweg tot zurückbleibenden Menschen als abschreckende Beispiele fungieren sollen oder zumindest bereitwillig in Kauf genommenes Ergebnis der breit orchestrierten Flüchtlingsabwehr der EU sind, dann läßt das alle Krokodilstränen versiegen. Wenn er an die umfassende Alimentierung nordafrikanischer Regimes erinnert, die die Flüchtlingsströme weit vor den Grenzen der EU stoppen und kanalisieren sollen - was niemals im Widerspruch dazu stand, daß der Angriff der NATO auf Libyen mit der Behauptung legitimiert wurde, er diene der Rettung durch die Truppen des EU-Grenzschützers Gaddafi in Bedrängnis geratener Rebellen -, dann weiß man auch bei der Welt, daß das, was ganz ohne eigene Beteiligung nicht "gehen" soll, ganz aktiv verhindert wird.

Wie Bierdel auch nur vorsichtig daran zu erinnern, daß der eigene Reichtum nach wie vor neokolonialistischen und imperialistischen Gewaltverhältnissen geschuldet ist, ist mit dem gesellschaftlichen Konsens, der die Verteidigung des eigenen Überlebens gegen andere begründet, unvereinbar. Es paßt von daher ins Bild, beim Deutschlandfest in Stuttgart gutgelaunt die eigenen Verdienste darum zu feiern, daß der Abwehr unerwünschter Menschen das Nichtwissenwollen um die konstitutiven Bedingungen, die das globale Nebeneinander von rosigfrischem Reichtum und leichenblasser Armut bedingen, vorausgeht.


Fußnoten:

[1] http://www.dradio.de/presseschau/

[2] http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/2275848/

5. Oktober 2013