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RAUB/1101: Dammbau schlimmer als Tsunami? - Karlsruhe ebnet CETA den Weg (SB)



Unter dem geradezu programmatisch anmutenden Titel "Das Bundesverfassungsgericht als Friedensstifter" zieht der Deutschlandfunk zur Eilentscheidung im Streit um CETA Bilanz [1]. Die Karlsruher Richter hätten damit eine der brisantesten gesellschaftlichen Diskussionen vorläufig befriedet, interpretiert Gudula Geuther sichtlich zufrieden den aktuellen Zwischenstand bei dem umkämpften Freihandelsabkommen. Die eigentlichen Auseinandersetzungen über CETA stünden allerdings noch aus, räumt die Kommentatorin ein, womit sie unausgesprochen bekräftigt, daß es sich um einen vorgeblichen Kompromiß handelt, mit dem eine der beiden Streitparteien von der anderen über den Tisch gezogen werden soll. Das Lob des höchstrichterlichen Verdikts, dem zufolge ein sofortiger Dammbau weit schlimmere Folgen als der ungehindert heranrauschende Tsunami zeitigen könnte, begrüßt unverhohlen den Primat deutscher Regierungsinteressen gegenüber verfassungsrechtlichen Bedenken.

Nähmen die Karlsruher Richter den Auftrag ernst, Verstößen gegen das Grundgesetz uneingeschränkt Einhalt zu gebieten, hätten sie CETA einen Riegel vorschieben müssen, solange diesbezügliche Zweifel im Raum stehen. Daß Anlaß zu solchen Bedenken besteht, zeigen die Auflagen, die der Bundesregierung gemacht wurden. So schloß der zweite Senat unter Leitung von Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle in der mündlichen Verhandlung nicht aus, daß CETA verfassungswidrige Bestimmungen enthalte könne, will darüber aber erst später verhandeln. Was den Eilantrag betreffe, würde eine deutsche Blockade jedoch die Außenhandelsbeziehungen zwischen der EU und Kanada beeinträchtigen und die "internationale Verlässlichkeit Deutschlands und Europas insgesamt" aufs Spiel setzen, erklärte der Gerichtspräsident [2]. Wäre es um das hohe Gut deutscher Verläßlicheit etwa anders bestellt, sofern der zweite Senat dem Handelsabkommen später doch noch Verfassungswidrigkeit attestiert? Das scheint aus Karlsruher Sicht eine rhetorische Frage zu sein, da man der Bundesregierung grünes Licht gegeben hat, dem Freihandelsabkommen mit Kanada im EU-Ministerrat zuzustimmen. Ein späterer Rückzieher, den das Bundesverfassungsgericht vorgeblich installiert hat, ist eher nicht vorgesehen.

Auch im Falle formal intakter Gewaltenteilung, wie man sie der Bundesrepublik selbst an der Schwelle zum Ausnahmezustand noch nicht gänzlich absprechen möchte, wird im Schulterschluß Staatsräson geübt. Nach dem Willen deutscher Eliten gilt es den Führungsanspruch in Europa und weit darüber hinaus durchzusetzen und auszubauen. Die Konditionen des Welthandels zu diktieren, wie dies in den Freihandelsabkommen zum Ausdruck kommt und umgesetzt wird, gehört zu den zentralen Instrumenten hegemonialer Ambitionen. In diesem Sinne sind Deutschland und die von ihm in zunehmendem Maße geprägte EU keineswegs nordamerikanischen Handelspräferenzen unterworfen, sondern im Gegenteil noch stärker als etwa die USA im Falle TTIPs am Gelingen dieser ökonomischen Aufrüstung gegenüber dem Rest der Welt interessiert.

Das Bundesverfassungsgericht hat die ihm zugesprochene Autorität genutzt, um Vertrauen zu erwirtschaften, das weite Teile der Gesellschaft der Politik kaum noch entgegenbringen. Es hat in der mündlichen Verhandlung eine fundierte Auseinandersetzung simuliert und mit seiner Entscheidung eines der aufgeladendsten Themen der aktuellen öffentlichen Diskussion zu entschärfen versucht. Geuthers Einschätzung, daß damit vor allem der Dampf aus dem Kessel empörten Bürgerprotests gelassen werden soll, der deutschem Regierungshandeln zu schaffen macht, dürfte den Nagel auf den Kopf treffen, wenngleich man die Begeisterung der Kommentatorin darüber gewiß nicht teilen muß.

Der Karlsruher Spagat, das Abkommen CETA anzuschieben, ihm aber zugleich verfassungsrechtliche Zügel anzulegen, ist daher mit Vorsicht zu genießen. Wenngleich die Auflagen an die Bundesregierung überraschend streng formuliert zu sein scheinen, bleibt völlig offen, wie sie ausgelegt und umgesetzt werden können. Es drängt sich der Verdacht auf, daß Sigmar Gabriels Zufriedenheit nach der Entscheidung des zweiten Senats von ganzem Herzen kam: "Ich glaube, dass wir mit allen guten Argumenten das Verfassungsgericht überzeugen konnten", rühmt sich der Bundeswirtschaftsminister einer verdächtigen Nähe seiner eigenen taktischen Manöver zur Beschlußlage des Karlsruher Gerichts. Der SPD-Vorsitzende hat seine Partei mit haltlosen Versprechen zur Räson gebracht, die offensichtlich keinerlei Wirkung erzielen, was ihre Umsetzung betrifft. So wurde ein mögliches Veto der Delegierten auf dem Konvent in Wolfsburg ausgehebelt. Nun hat das Bundesverfassungsgericht die Steilvorlage aufgenommen und den Ball ins Tor der CETA-Gegner geschossen - aber nur vorläufig, wie es heißt, da die Abseitsregel im Laufe der nächsten Monate oder wohl eher Jahre ja noch nachträglich zur Anwendung kommen könnte.

So verständlich die Erleichterung auf seiten der Bewegung gegen CETA, TTIP, TiSA und Konsorten sein mag, da in Karlsruhe eine komplette Abfuhr zu befürchten stand, scheint doch ein gesundes Mißtrauen das Gebot der Stunde zu sein, wie es beispielsweise Hilde Mattheis zum Ausdruck bringt. Die Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der Demokratischen Linken in der SPD ist in Wolfsburg standhaft geblieben und hätte sich in Karlsruhe ein "ganz klares Urteil" gegen CETA gewünscht [3]. Auch wenn sie den Klägern gerne folgen könne, die einen 70prozentigen Erfolg feierten, wären ihr 100 Prozent lieber: "Es ist ja jetzt im Moment schon noch so eine vage Haltung da und man weiß nicht, wie es am Ende ausgeht", beschreibt sie anschaulich die herrschende Unsicherheit darüber, wie substantiell die Auflagen des Bundesverfassungsgerichts sind.

Sind Freihandelsabkommen überhaupt einseitig kündbar? Wie genau sind die nationalen Belange eingrenzbar, die ausgeklammert bleiben sollen, wenn CETA vorläufig in Kraft gesetzt wird, was wohl kaum noch zu verhindern ist? Kann der sogenannte gemeinsame Ausschuß, die Verkörperung des unkontrollierbaren Eigenlebens solcher Freihandelsabkommen, tatsächlich demokratisch angebunden werden? Und ist die Bundesregierung willens und in der Lage, diese Auflagen des zweiten Senats umzusetzen? Die Freihandelsabkommen sind juristische Konstruktionen, deren präzise Ausdeutung selbst Experten außerordentlich schwerfällt. Diese Problematik der Interpretation kommt nicht von ungefähr, geht es doch bei diesen Vertragswerken darum, den Vollzug des Raubes via Handel in bislang unerschlossene Sphären der Ausbeutbarkeit und Verfügbarkeit voranzutreiben. Es handelt sich folglich um einen Machtkampf, der nicht zuletzt mit juristischen Mitteln vorgebahnt, reglementiert und ausgetragen wird, die ihrerseits Gegenstand der Auseinandersetzung bleiben.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/freihandelsabkommen-ceta-das-bundesverfassungsgericht-als.720.de.html?

[2] https://www.jungewelt.de/2016/10-14/001.php

[3] http://www.deutschlandfunk.de/freihandelsabkommen-ceta-man-weiss-nicht-wie-es-am-ende.694.de.html?

14. Oktober 2016


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