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RAUB/1103: Schuldturm Hartz IV - Bezichtigung ohne Ende (SB)



Nicht die Bekämpfung der Armut, sondern die Bezichtigung der Armen ist die Ultima ratio bundesrepublikanischen Sozialmanagements. Der deutsche Führungsanspruch in Europa und darüber hinaus, erwirtschaftet mit einer Produktivität zu Lasten der Lohnabhängigen und Erwerbslosen, duldet weder ein sozialstaatlich gesichertes Auskommen sogenannter unproduktiver Teile der Bevölkerung, noch deren bloßen Anspruch auf ein Leben in Würde. In den administrativen Schuldturm des Hartz-IV-Regimes geworfen, stehen sie am kollektiven Pranger angeblich selbstverursachter Not, Delinquenten am werktätigen Steuerzahler, dessen widerstandslose Opferbereitschaft ihr abschreckendes Schicksal nachgerade erzwingt.

Der Sozialstaat müsse wehrhaft sein, feiert Die Welt die jüngst publik gewordene Verschärfung der Sanktionen gegen "Hartz-IV-Mißbrauch" als ein notwendiges Zeichen "zur Beruhigung derer, die in den großen Topf einzahlen; und zur Abschreckung jener, die skrupellos und tief in diesen hineingreifen wollen". Damit die Steuerzahler "auch weiter bereitwillig jenen geben, die wirklich auf ihre Solidarität angewiesen sind", müsse "erschlichenen Sozialleistungen" energisch ein Riegel vorgeschoben werden, mit Verwarn- und Bußgeldern, notfalls auch mit Erzwingungshaft. Zu begrüßen sei gleichermaßen, daß "die Jobcenter künftig die zuständigen Ausländerbehörden informieren müssen, wenn ausländische Hartz-IV-Empfänger mit Bußgeldern von mehr als 1000 Euro belegt werden". Schließlich gerate der Sozialstaat "heute ohnehin unter Druck - durch die Leistungen für Flüchtlinge und den Zuzug mittelloser EU-Ausländer, auf den zuletzt sogar Bundessozialministerin Andrea Nahles mit einer Verschärfung der Bedingungen reagiert" habe. [1]

Was lassen sich die Menschen aus Sicht der Bundesagentur für Arbeit zu schulden kommen, daß sie ihnen verschärft an den Kragen gehen will? Ihnen droht eine Strafe von bis zu 5.000 Euro, wenn sie den Jobcentern wichtige Informationen verschweigen. Die Strafe kann verhängt werden, wenn Hartz-IV-Empfänger Angaben, die für die Festsetzung der Hartz-Leistungen wichtig sind, "nicht, nicht richtig, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig" machen. Zuvor drohten die Strafen nur, wenn die Betroffenen falsche Angaben gemacht haben; keine Strafen waren hingegen vorgesehen, wenn sie gar keine Angaben machten. Und geprüft wurde auch erst, wenn Hartz-IV-Leistungen gezahlt wurden, nicht schon wie jetzt bei der erstmaligen Beantragung. Hier hatte die Bundesagentur eine "Regelungslücke" entdeckt, die sie mit ihrer entsprechenden Weisung geschlossen hat.

Die Neuregelung galt bereits für alle Anträge, die ab 1. August gestellt wurden. Wer die vom Jobcenter verhängten Geldbußen nicht zahlen kann oder will, kommt im äußersten Fall hinter Gitter. Diese Zwangsmaßnahme soll vor allem bei den Hartz-Empfängern angewandt werden, die ihre "Zahlungsunwilligkeit deutlich zum Ausdruck gebracht" haben, wie es in der internen fachlichen Weisung der Bundesagentur heißt. Die Jobcenter sind gehalten, in solchen Fällen entsprechende Anträge bei den Amtsgerichten zu stellen. Haben Hartz-IV-Empfänger nach Einschätzung der Jobcenter in voller Absicht und keineswegs versehentlich keine oder falsche Angaben zu ihrer Vermögenslage gemacht, droht ihnen überdies eine Betrugsanzeige bei der Staatsanwaltschaft. Bei leichten Vergehen können zudem Verwarngelder von bis zu 55 Euro erhoben werden, während es zuvor 50 Euro waren. [2]

Die jüngste Verschärfung der Sanktionen war in den genannten Teilen zunächst fast unbemerkt in Kraft getreten, wenn man einmal von möglichen Betroffenen absieht. Die Bundesagentur hat mit ihrer Weisung ein Gesetz umgesetzt, das der Bundestag im Sommer beschlossen hatte. Unter dem fadenscheinigen Deckmantel, das "Rechtsvereinfachungsgesetz" solle die Jobcenter in erster Linie von Bürokratie entlasten, enthält es massive Sanktionsmöglichkeiten. So ist nun klarer geregelt, daß Hartz-IV-Leistungen zusammengestrichen werden können, wenn eine Notlage selbst herbeigeführt oder verschlimmert wurde. Das soll laut Bundesagentur beispielsweise für Berufskraftfahrer gelten, die den Führerschein wegen Trunkenheit am Steuer verlieren und dann auf Hartz IV angewiesen sind, oder für Arbeitslose, die bezahlte Jobs grundlos ablehnen. Bei sogenanntem sozialwidrigen Verhalten können im Extremfall die Leistungen der vergangenen drei Jahre zurückgefordert werden. [3]

Die letztgenannten Verschärfungen waren bereits im Sommer bekannt und von den Medien diskutiert worden, zumal die Bundesagentur für Arbeit damals häufigere Kontrollen der Einkommen und Vermögen von Hartz-IV-Haushalten angekündigt hatte und zwar auch von Haushaltsmitgliedern, die selbst keine Leistungen beziehen. Wie diese Ausweitung der Überwachung unterstreicht, macht Hartz IV die Privatsphäre obsolet und zwingt die Betroffenen, vor Bezug etwaiger Leistungen jegliche Rücklagen aufzubrauchen und fortan auf alle Möglichkeiten zu verzichten, ihre prekären Lebensverhältnisse nebenbei etwas aufzubessern.

Ein Blick auf die Statistik zeigt, daß die aktuelle Gesetzgebung keineswegs einem zunehmenden "Mißbrauch" von Hartz-IV-Leistungen Rechnung trug. Das Gegenteil ist der Fall, da das Druckgespann von Kontrolle und Sanktion längst seine einschüchternde Wirkung entfaltet hatte. So ist die Zahl der Hartz-IV-Bezieher, denen die staatliche Hilfe vollständig gestrichen wurde, in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen: 2008 waren noch rund 12.000 Personen davon betroffen, im vergangenen Jahr nur noch knapp 7000. Gemessen an der Gesamtzahl der Hartz-IV-Bezieher sank die Quote auf 0,45 Prozent. Auch die Zahl der Sanktionen insgesamt ist rückläufig und fiel im ersten Halbjahr 2016 auf den tiefsten Stand seit fünf Jahren: Bis Ende Juni hatten die Jobcenter 457.000 Strafen verhängt, weil die Betroffenen nach Auffassung der Behörden nicht kooperierten. Im Durchschnitt behalten die Jobcenter rund 100 Euro ein. [4]

Die jüngst publik gewordene erneute Verschärfung der Regeln rief Kritik auf den Plan. Wie der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, erklärte, falle schon auf, daß in letzter Zeit nur von Verschärfungen und Repressionen bei Hartz IV zu hören sei, aber "extrem wenig von Neuregelungen zur besseren Hilfe". Die Linksfraktion im Bundestag sprach von einer "Verfolgung und Kriminalisierung von Hartz-IV-Beziehern", die endlich beendet werden müsse: "Die Schuld für alles immer den Hilfesuchenden und Menschen in Not in die Schuhe zu schieben, ist eines Sozialstaats nicht würdig."

Führt die Linkspartei wieder einmal "reflexhaft" bloße Behauptungen ins Feld, die der Realität nicht standhalten, wie Die Welt erkannt zu haben glaubt? Und zeugt die geplante Erhöhung der Regelsätze bei Hartz IV nicht von einem intakten Sozialstaat, der sich seiner Verantwortung durchaus bewußt ist? Wer den Referentenentwurf von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) gründlich studiert, der Mitte Dezember im Bundestag beschlossen werden soll, stößt auf ein Konstrukt gezielter Verschleierung, das eine geringfügige Erhöhung der Bezüge in Aussicht stellt, jedoch unter dem Strich eine Minderung verfügt. So rügen Caritas und die Diakonie "verdeckte Kürzungen", der Verband alleinerziehender Mütter und Väter (VAMV) warnt vor weiterer Verschärfung der Kinderarmut. [5]

Dem Entwurf zufolge sollen die Leistungen um null (Kleinkinder) bis fünf Euro (Alleinstehende) minimal steigen. Nur für sechs- bis 13jährige soll es 21 Euro mehr als bisher geben. Neben diversen weiteren Kritikpunkten an den zugrundegelegten Kriterien des Ministeriums kommt die Diakonie bei einer Überprüfung der Orientierungswerte zu dem Schluß, daß selbst die Ausgaben der ärmsten Haushalte "unsachgemäß kleingerechnet" worden seien. Demnach handele es sich nicht wie behauptet um eine knappe Anhebung der Bezüge, sondern de facto um eine Kürzung.

Die Schlinge immer enger zu ziehen, ist keine übertriebene oder kontraproduktive Handhabung der Armutsverwaltung, sondern deren immanenter Zweck. Das deutsche Erfolgsmodell Hartz IV, den Arbeitszwang auch ohne ausreichende Arbeitsplätze und angemessene Entlohnung lückenlos durchzusetzen, ohne dabei massenhafte Gegenwehr zu riskieren, läßt niemanden ungeschoren. Die Sozialtechnologie umfassender Verfügung durchdringt alle gesellschaftlichen Sphären und erhebt die unmittelbare Verrechnung von rückhaltloser Unterwerfung mit der Zuteilung einer notdürftigen Überlebenssicherung in den Rang der einzig legitimen Existenzweise der Besitzlosen.


Fußnoten:

[1] https://www.welt.de/debatte/kommentare/article159018624/Bei-Missbrauch-muss-der-Sozialstaat-wehrhaft-sein.html

[2] http://www.scharf-links.de/41.0.html

[3] Siehe dazu:
SOZIALES/2098: Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger verschärft (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/redakt/szls2089.html

[4] http://www.derwesten.de/politik/haertere-strafen-fuer-hartz-iv-trickser-stossen-auf-kritik-id12302976.html

[5] https://www.jungewelt.de/2016/09-20/024.php

27. Oktober 2016


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