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RAUB/1121: Der Gipfel des Automobilismus (SB)



Wer sich angesichts der lauwarmen Maßnahme, mit der die Stickoxidemissionen von Dieselfahrzeugen beschränkt werden sollen, über die zu große Nähe von Regierung und Autoindustrie beklagt, tut gerade so, als sei die Entwicklung der Bundesrepublik zum Krisengewinner und Exportmeister nicht eben dieser Kollaboration von Staat und Kapital geschuldet. Der Dieselgipfel brachte in dieser Hinsicht nichts an den Tag, was nicht seit jeher bekannt ist, und sein Ergebnis reflektiert das durchgängige Interesse an der Aufrechterhaltung des Gesamtproduktes um fast jeden Preis, wenn er nur von den jeweils anderen, weder auf Regierungs- noch Industrieseite vertretenen Menschen entrichtet wird. Die Auslagerung eines relevanten Teils der Produktionskosten in die Umwelt zu stoppen ist denn auch kein Thema, wie es auch niemals um die vielfach beschworene "Gesundheit der Menschen" geht.

Wenn überhaupt, dann geht es um die Steigerung ihrer Belastbarkeit im Sinne sogenannter Resilienz, mit der der ohnehin nicht mehr erhobene Anspruch auf vollständige Freiheit von physisch wie psychisch destruktiven Einflüssen auf allgemeinverträgliche Weise relativiert wird. Die gesetzlichen Grenzwerte bestimmen, in welchem Ausmaß die atembare Atmosphäre verstoffwechselnde Bioorganismen, sprich Menschen, Tiere und Pflanzen, legal geschädigt, also unter Entzug eines einklagbaren Rechtsanspruches auf Unversehrtheit mit destruktiven Einflüssen aller Art traktiert werden können. Nur so kann die industrielle Produktionsweise als Grundlage der Erzeugung gesellschaftlichen Reichtums in Anspruch genommen werden, nur so können Lohnabhängige zur Sicherung ihres Überlebens dazu genötigt werden, dem Käufer ihrer Arbeitskraft nicht nur Kraft und Zeit zu überantworten, sondern sich mit Haut und Haaren, also unter faktischem Verbrauch ihrer Physis, in die Maschine der Mehrwertproduktion einspeisen zu lassen.

Der nun ins Blickfeld geratene Scheinwiderspruch des drastischen Unterschiedes zwischen dem Grenzwert für Stickoxide in der Außenluft von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft und dem am Arbeitsplatz, wo 950 Mikrogramm pro Kubikmeter erlaubt sind, macht mehr als deutlich, daß die sogenannte Gesundheit ein Verbrauchsgut ist, für dessen Verzehr nicht einmal Geld fließen muß, sondern das fragwürdige Privileg, Insasse der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft zu sein, zu genügen hat. Das Argument, die Stickoxidbelastung am Arbeitsplatz erfolge nur befristet für acht Stunden an fünf Tagen in 40 Jahren Lebensarbeitszeit, während die Außenluft rund um die Uhr auch von bereits vorgeschädigten Menschen oder Kindern eingeatmet wird, belegt den von vornherein eingeplanten Verbrauch der Physis der Lohnabhängigen. Klärt Dr. Simone Peters vom Institut für Arbeitsschutz der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IFA) [1] zudem darüber auf, daß 950 Mikrogramm Stickstoffdioxid kaum an einem typischen Büroarbeitsplatz zu erwarten sind, sondern vor allem bei sehr heißen Verbrennungsprozessen auftreten wie etwa bei der Herstellung von Glasflaschen oder bei Schweißarbeiten, dann hat man es mit einem typischen Beispiel für die sozial selektive Verteilung von Belastungen, die für den Gesamtbetrieb angeblich unabdinglich sind, zu tun.

Im Grundsatz Bedenkenswertes wie dieses Gewaltverhältnis war kein Thema für den Dieselgipfel, denn grundsätzliche Veränderungen in den gesellschaftlichen Klassenverhältnissen will niemand. Nicht einmal über eine radikale Verkehrswende wurde in diesem "Fukushima-Moment", so Cem Özdemir, diskutiert. Verfechter wie Kritikerinnen des Ergebnisses des Dieselgipfels, wo man sich auf eine Softwarelösung für zu viel Stickoxide emittierende Fahrzeuge einigte, stimmen darin überein, daß das große Rad der Kapitalakkumulation weiter gedreht werden muß. Wer auch immer zwischen seine Speichen gerät, kann nicht die Sorge von Funktionsträgern sein, die sich im Zweifelsfall in ihre Komfortzonen mit unbegrenzt sauberer Luft, klarem Wasser, gutem Essen und natürlich hermetisch vom Pöbel auf der Straße abgeschlossenen Automobilen zurückziehen. Der Kapitalismus muß grün werden, wird den Menschen vorgegaukelt, was im Falle der Mobilität die zügige Umstellung auf Elektrofahrzeuge bedeutet, staatlich subventioniert etwa durch die Übernahme der Entwicklungskosten der E-Mobilität. Von Greenpeace bis zu den Grünen wird ein Modell des korporatistischen Kapitalismus propagiert, der munter darauf los produziert, obwohl nicht einmal die Frage ökologisch vertretbarer Speicheraggregate gelöst ist. Geht es nach ihnen, soll der Individualverkehr auch in Zukunft erheblichen Ressourcenverbrauch durch die ausreichende Bereitstellung von Strom, den Bau der Fahrzeuge und Batterien wie auch die Versiegelung des Bodens durch das Straßennetz zeitigen.

Dabei wäre, wollte man tatsächlich alle berechenbaren ökologischen wie sozialen Verluste in E-Fahrzeuge, ihren Betrieb und ihre Wartung einpreisen, die Individualmobilität mehr noch als heute ein Privileg wohlhabender Eliten. Es zeugt denn auch vom Kartellcharakter der an der Debatte um die Zukunft des Dieselmotors beteiligten Parteien, daß die vielen Menschen, die kein Auto ihr eigen nennen, die zu Fuß gehen und Fahrrad fahren, die Reisen per Bahn oder Bus unternehmen, in ihr keine Stimme haben. Die Grundlinie der Beibehaltung des Automobilismus als primärer gesellschaftlicher Mobilitätsform ist ein Affront gegenüber allen von seinen zerstörerischen Auswirkungen betroffenen Lebewesen und von klassenantagonistischem Widerspruchscharakter. Von den Steuern und Renditen einer Automobilindustrie leben zu wollen, deren Fahrzeuge seit Jahren immer schwerer und PS-stärker werden, was die beim Diesel positiv hervorgehobene CO2-Einsparung längst aufgezehrt hat, wird durch E-Mobilität sozialökologisch nicht verträglicher, sondern sichert ein Akkumulationsregime ab, dessen nationalstaatliche Verankerung im deutschen Imperialismus, seine aggressiven Maßnahmen für Ressourcensicherheit, Handelsvorteile und Marktzugang, soziale Verelendung im Weltmaßstab erzeugt.

Das Insistieren auf der konventionellen, lediglich in der Frage des Antriebs zu verändernden Automobilität ist eine Kampfansage an all diejenigen, die schon jetzt unter der Privatisierung der Straße durch fahrende Wohnzimmer, unter der raumfordernden Aggressivität zu kurz gekommener Männlichkeit und der Unwirtlichkeit asphaltierter Städte zu leiden haben. Alle relevanten Entscheidungen sollen über den Preis geregelt werden, und der entscheidet im Ernstfall über Leben und Tod. Mit dem Argument, daß das tonnenschwere Gewicht vieler heutiger PKWs zu einem Gutteil der besseren Sicherheitstechnik geschuldet sei, wird stillschweigend in Kauf genommen, daß die Insassen eines kleineren und leichteren Fahrzeuges bei einer Kollision den kürzeren ziehen, von den Hunderttausenden Tieren, die jedes Jahr auf Deutschlands Straßen überfahren werden, einmal abgesehen. Über die am leichtesten zu verwirklichende, sicherheits- wie emissionstechnisch sofort wirksame Maßnahme wird kaum mehr gesprochen. Mit Tempo 100 kämen die Menschen sicherer an ihrem Ziel an, verbrauchten dabei weit weniger Sprit, und der Wirkungsgrad für dessen Entgiftung stiege drastisch an. Zu verändern wäre auch die von Grundrente und Bodenspekulation bestimmte Strukturierung der Städte mit ihren weiten Wegen, die abzukürzen unter der Voraussetzung einer Vergesellschaftung des Wohnens und Arbeitens machbar wäre.

Nicht die Nähe von Staat und Kapital ist das Problem, sondern das Insistieren auf raumgreifende und brandintensive Formen der Fortbewegung im Einvernehmen gesellschaftlicher Eliten, denen der Verbrauch der in Anspruch genommenen Naturkräfte der wesentliche Maßstab für profitables Wachstum und produktiven Wettbewerb ist. Sie wissen diejenigen Verwertungsprozesse am meisten zu schätzen, die andere Menschen und Lebewesen an ihre Verfügungsgewalt über das gesellschaftliche Eigentum binden und ihrem Kommando unterwerfen. Schneller als der andere ans Ziel zu kommen ist schließlich kein Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Effizienz, sondern Lebenselixier sozialdarwinistisch agierender Marktsubjekte, die im erfolgreichen Überlebenskampf den einzigen Sinn erkennen, der ihrer flüchtigen Existenz abzuringen ist - von der Ohnmacht und dem Schmerz des Lebens der anderen zu zehren.


Fußnote:

[1] http://www.augsburger-allgemeine.de/wirtschaft/Wie-viel-Stickoxid-ist-wirklich-gefaehrlich-id42272066.html

3. August 2017


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