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RAUB/1159: Luftverkehr - der blinde Fleck ... (SB)



Der tägliche Radius eines jeden erweitert sich auf Kosten der Möglichkeit, den eigenen Weg zu gehen. Um den Preis einer universalen Versklavung werden extreme Privilegien geschaffen. Eine Elite legt in einem Leben voller Luxusreisen unbegrenzte Entfernungen zurück, während die Mehrheit den größeren Teil ihres Daseins mit dem ungewollten Umfahren von Flug- und Parkplätzen verbringt. Die wenigen besteigen ihren Zauberteppich, um zwischen entfernten Orten hin und her zu fliegen, die sie durch ihre flüchtige Gegenwart begehrt und verführerisch machen, während die vielen gezwungen sind, weiter und schneller zu fahren und mehr Zeit mit der Vorbereitung für und der Erholung von ihrem Arbeitsweg verbringen.

Ivan Illich - Energie und Gerechtigkeit [1]

Läßt man die Berichterstattung dieses Sommers über die zivile Luftfahrt Revue passieren, dann ging es fast ausschließlich um die Probleme Flugreisender, ohne Wartezeiten und andere Unannehmlichkeiten ihre Urlaubsziele zu erreichen. Um etwas über die immensen sozialökologischen Belastungen zu erfahren, die vom Flugverkehr ausgehen, muß schon ganz gezielt das Internet konsultiert werden. Trotz - oder gerade wegen - der stetig ansteigenden Belastungen der Atmosphäre, die vom weltweiten Flugverkehr ausgehen, und damit des Klimas genießt gerade diese Mobilitätsform in jeder Hinsicht Protektion. Der Verdacht liegt nahe, daß der elitäre Charakter dieser Form des Reisens - bestenfalls zehn Prozent der Weltbevölkerung haben jemals eine Flugreise unternommen - die daran teilhabenden JournalistInnen und PolitikerInnen kaum motiviert, das Thema in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken und ernstzunehmende Schritte zur Regulation und Beschränkung dieser Verkehrsform zu fordern.


Wachsende Beschleunigung, abnehmender Wirkungsgrad

In einem fundamentalen Sinne besteht die soziale Problematik des Fliegens in der anwachsenden Geschwindigkeit des Reisens und einem daraus resultierenden Zeitgewinn, der an anderer Stelle erhebliche Verluste erzeugt. Während die hohe Ressourceneffizienz eines Fahrrads auf den ersten Blick einleuchtet, verlagert sich der im Verhältnis zur zurückgelegten Strecke überproportional anwachsende Aufwand beim Automobil und beim Flugzeug immer mehr in die externalisierten Kosten der Naturzerstörung, die globale Peripherie der Rohstoffextraktion, die industrielle Herstellung der Verkehrsmittel und den Bau und Erhalt der gebauten Infrastruktur aus Straßen, Park- und Flugplätzen. Beim fossil betriebenen PKW nimmt der Treibstoffbedarf mit anwachsender Geschwindigkeit stark zu, beim Personentransport im Flugzeug multipliziert sich der Verbrauch von fossiler Energie pro Personenkilometer wie das Ausmaß der Schädigung der Atmosphäre durch die dabei emittierten Treibhausgase um ein Mehrfaches. Während sich dieses Verhältnis beim Schienenverkehr wieder nivelliert, wird der Zusammenhang von intensivierter Zerstörung durch den Flugbetrieb und Zeitgewinn für seine Passagiere bei der geplanten Wiederaufnahme des Betriebes von Verkehrsflugzeugen im Überschallbereich [2] besonders deutlich.

Den ehrgeizigen Wachstumsprognosen der internationalen Luftfahrtindustrie gemäß befinden sich zur Zeit weltweit 1200 neue Flughäfen oder Erweiterungen bestehender Anlagen im Bau oder sind geplant. Die damit einhergehenden Konflikte betreffen in vielen Fällen die Vertreibung von Menschen, die auf den dazu erforderlichen Flächen leben, und die Belastung der umliegenden Wohnbezirke durch den Fluglärm. Von vielen Industriebetrieben und Agrarfabriken, die Atemluft und Trinkwasser kontaminieren, sind unterprivilegierte Minderheiten besonders stark betroffen. Wenn Flughäfen in Stadtteilen errichtet werden, wo die Wohnlage billig ist und die dort lebenden Menschen nicht zu den Kunden der Reiseunternehmen gehören, die sie in Anspruch nehmen, kann durchaus von umweltbedingtem Rassismus gesprochen werden. Der britische Zweig von Black Lives Matter legte 2016 mit seinen Protesten auf dem London City Airport [3] den Finger in die Wunde einer Verkehrsform, deren Passagiere sich wortwörtlich über die Köpfe ihrer Mitmenschen erheben und nach Belieben in alle Welt reisen, während der freien Bewegung der Menschen am Boden durch immer höhere Grenzzäune und brutalere Formen der Flüchtlingsabwehr Einhalt geboten wird.

Großflughäfen sind häufig nationale Prestigeprojekte, die aufstrebende Metropolregionen in den Rang von Global Cities erheben und Regierungen zu mehr Ansehen verhelfen sollen. Jüngstes Beispiel für die negativen Folgen derartiger verkehrs- und industriepolitischer Investitionsprojekte sind die Arbeitskämpfe, die beim Bau des Istanbul Grand Airport aufgrund der ausbeuterischen Arbeitsbedingungen und der bis Februar rund 400 tödlich endenden Arbeitsunfälle entbrannt sind. Sie wurden vom türkischen Despoten Präsident Erdogan, der sich persönlich mit diesem Mammutbau schmücken will, mit massiver Repression beantwortet. Das Baukonsortium unterhält enge Verbindungen zur türkischen Regierung, und die Deutsche Post AG ist als Großinvestor mit an Bord [4].

Bis heute muß die Flugverkehrsbranche keine Steuern für das Flugbenzin Kerosin zahlen. Die Tickets für internationale Flüge sind von der Mehrwertsteuer ausgenommen, staatliche Mittel beim Bau von Flughäfen und der dazugehörigen Verkehrsinfrastruktur fließen reichlich, und die wichtigste Fluggesellschaft Deutschlands, die Lufthansa, hätte ohne jahrzehntelange staatliche Anschubhilfe nicht zugunsten kapitalstarker Anleger privatisiert werden können. Laut Umweltbundesamt kommt die Lufverkehrsbranche in den Genuß von 11,8 Milliarden Euro direkter und indirekter Subventionen im Jahr. EU-weit werden die luftfahrtbedingten Steuerverluste auf 30 bis 40 Milliarden Euro geschätzt.

Die politische Begünstigung der Luftfahrtindustrie ist ein Wesensmerkmal kapitalistischer Gesellschaften, die ihre Konkurrenzfähigkeit am Weltmarkt über die staatliche Förderung besonders innovativer Industrien zu sichern versuchen. Hinzu kommt die Bedeutung des Luftkrieges als militärische Seite ökonomischer Expansion. Die meisten Flugzeugbauer sind im zivilen und militärischen Bereich aktiv und besitzen den Status besonders sicherheitsrelevanter Schlüsselindustrien. Es ist kein Zufall, daß dem Schutz gegen terroristische Anschläge im zivilen Luftverkehr weit mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als etwa im Reiseverkehr mit Zügen oder Automobilen.


Brandspuren im Himmel

Die weder im Klimaabkommen von Kyoto noch von Paris in die Pflicht genommene Luftfahrtindustrie wird globaladministrativ durch die UN-Organisation International Civil Aviation Organization (ICAO) vertreten. Die im Oktober 2016 beschlossene Klimastrategie Carbon Offsetting and Reduction Scheme for International Aviation (CORSIA) basiert wesentlich auf der Kompensation der beim Flugverkehr freigesetzten klimaschädlichen Treibhausgase durch Emissionszertifikate oder den Einsatz von Agrartreibstoffen anstelle des fossilen Kerosins. In beiden Fällen handelt es sich um Formen bloßer Verlagerung der beim Flugbetrieb entstehenden Schäden in andere Bereiche.

Fiktive Einsparpotentiale werden in geldwerte Verschmutzungsrechte umgewandelt, um die Brennwirkung des Luftsauerstoffes weiterhin in Anspruch nehmen zu können. Ob irgendwo anders ein Wald als Schutzgebiet ausgewiesen oder ein Wasserkraftwerk gebaut wird, was insbesondere für indigene Bevölkerungen katastrophale Auswirkungen haben kann, ändert nichts an den zerstörerischen Auswirkungen des Flugverkehrs auf die Atmosphäre des Planeten. Ob das eine mit dem anderen langfristig gegengerechnet werden kann, ob CO2-Äquivalente überhaupt miteinander vergleichbar sind, wie objektiv verifizierbar die dem Emissionshandel zugrundegelegten Projektionen sind, das alles sind Fragen, die vielleicht KlimaaktivistInnen beschäftigen, aber nicht die Luftfahrtindustrie. Das einzig sinnvolle Ziel einer objektiven Reduktion klimaschädlicher Praktiken wird absichtsvoll umgangen, um mit dem abstrakten Wechselspiel der CO2-Äquivalente Nebelwände zu errichten, hinter denen die ehrgeizigen Pläne der Luftfahrtindustrie vorangetrieben werden können.

Der Einsatz von Biomasse als Energieträger ist nicht nur abzulehnen, weil die Einspareffekte an CO2 bei sogenannter Bioenergie geringer sind als bei anderen Formen erneuerbarer Energie. Die dazu erforderlichen Maschinen, Düngemittel und Ackergifte sind in einem Maße von fossilen Ressourcen abhängig, daß ein aus Feldfrüchten erzeugter Treibstoff sogar klimaschädlicher sein kann als sein fossiles Äquivalent. Vor allem geht der dafür erforderliche Flächenverbrauch zu Lasten von Millionen Menschen, deren Hunger durch die Verknappung für den Anbau von Nahrungsmitteln verfügbaren Bodens noch größer wird.

Die von der ICAO geplante Entwicklung neuer Technologien bei der Bauweise der Flugzeuge und ihrer Antriebssysteme steht in Anbetracht der notwendigen Entwicklungszeit und des 25 Jahre umfassenden Zyklus, in dem die Flugzeugflotten der Luftverkehrskonzerne ausgetauscht werden, in krassem Mißverhältnis zu dem sich weiter beschleunigenden Klimawandel. Vor 2050 bis 2060 sind keine nennenswerten Neuerungen zu erwarten, die die CO2-Emissionen des Flugverkehrs auch nur annähernd kompensierten. Derartigen Projektionen stehen Wachstumsprognosen der internationalen Luftfahrtindustrie gegenüber, bei denen von einer Verdopplung des weltweiten Passagieraufkommens bis 2035 oder gar einem Zuwachs des Flugaufkommens um 500 Prozent bis zum Jahre 2050 ausgegangen wird.


Stay Grounded ... der Luftfahrtindustrie bläst der Wind ins Gesicht

Völlig ungerührt vom Widerspruch zwischen Klimapolitik und Flugverkehr erklärte Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer am 5. Oktober auf dem Luftfahrtgipfel in Hamburg vor einem vorwiegend aus Managern der Luftfahrtindustrie und Flughafenbetreibern bestehenden Publikum: "Wir können Luftverkehr, und das wollen wir unter Beweis stellen" [5]. Es ging ausschließlich darum, wie das "Flugchaos", also das anwachsende Passagieraufkommen, organisatorisch und logistisch in den Griff zu bekommen sei.

Zwei Tage zuvor waren auf dem European Aviation Summit in Wien EU-Verkehrskommissarin Violeta Bulc, hochrangige PolitikerInnen der EU-Mitgliedstaaten und Vorstandsvorsitzende von Airlines und Flughäfen zusammengekommen, um über die EU Aviation Strategy zu beraten. Auch bei diesem Plan der EU-Kommission stehen Wachstumsperspektiven, Handelsfragen und Probleme bei der Organisation und Sicherheit des Flugverkehrs im Mittelpunkt. Während die weitere Einebnung regulatorischer Hindernisse großgeschrieben wird, fristet der Klimaschutz ein Mauerblümchendasein. Das offizielle Vorhaben, ein angeblich kohlenstoffneutrales Wachstum bis 2020 und eine Reduktion der CO2-Emissionen um 50 Prozent bis 2050 auf das Niveau von 2005 im Rahmen des CORSIA-Planes zu verwirklichen, ist aufgrund von Kompensationsmechanismen, die Destruktivpotentiale durch marktbasierte Mechanismen lediglich verlagern, aber nicht beseitigen, Augenwischerei und auch sonst so glaubwürdig, wie es etwa die Klimaschutzziele der deutschen Bundesregierung sind.

Es ist den AktivistInnen des neugegründeten internationalen Netzwerkes Stay Grounded zu verdanken, daß die sozialökologischen Probleme des Luftverkehrs auf dem Wiener Gipfel überhaupt zur Sprache kamen und kritisch gewürdigt wurden [6]. Stay Grounded hat am 1. Oktober eine zweiwöchige Phase mit Protestaktionen begonnen und zugleich ein Positionspapier veröffentlicht, in dem die Gründe und Perspektiven der Kampagne gegen die klimaschädlichen und sozialfeindlichen Auswirkungen dieser Verkehrsform dargelegt werden [7]. Da das Positionspapier von zahlreichen umweltpolitischen Organisationen und Initiativen unterstützt wird, könnte die Zeit demnächst vorüber sein, in der die internationale Luftfahrtindustrie ihre Geschäfte ungestört im Schatten anderer sozialökologischer Kämpfe vollziehen konnte. Wie das Beispiel der Antikohlebewegung in Deutschland gezeigt hat, ist die Zeit für soziale Bewegungen überreif, die um eine lebenswerte Zukunft kämpfen - nicht nur für sich und ihre Familien, sondern alle Lebewesen.


Fußnoten:

[1] Ivan Illich: Fortschrittsmythen. Reinbek bei Hamburg, 1978, S. 84

[2] RAUB/1141: Flugverkehr - soziale Last und Klimafracht ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub1141.html

[3] RAUB/1091: Black Lives Matter ... nicht im internationalen Flugverkehr (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub1091.html

[4] https://www.jungewelt.de/artikel/340951.repression-gegen-arbeiter-in-türkei-erdogans-arbeitslager.html

[5] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/luftfahrt-gipfel-beschliesst-25-massnahmen-gegen-flugchaos-15822923.html

[6] https://www.eu-umweltbuero.at/inhalt/european-aviation-summit-protestaktion-gegen-greenwashing

[7] https://stay-grounded.org/position-paper/position-paper-de/

6. Oktober 2018


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