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RAUB/1196: Globalisierung - Märktebau und Länderklau ... (SB)



Mit 61 Staaten stellen die EU und die Länder Lateinamerikas und der Karibik fast ein Drittel der Mitgliedsländer der Vereinten Nationen. Wir sind über eine Milliarde Frauen und Männer und erwirtschaften 40 Prozent des Bruttosozialprodukts der Welt. Es ist an der Zeit, diese Kraft gemeinsam zu nutzen.
Bundesaußenminister Heiko Maas [1]

Wenn der deutsche Außenminister plötzlich sein Herz für die Länder Lateinamerikas entdeckt und sie mit salbungsvollen Worten umwirbt, hat diese Wiederentdeckung des Kontinents handfeste ökonomische Gründe. Daß ihm die jahrzehntelang vernachlässigte Region bei dem Versuch, verlorengegangenes Terrain zurückzuerobern, freudig entgegenkommt, ist eher nicht zu erwarten. Obgleich die Auffassung, daß die ehemaligen Kolonialmächte Europas in der Rüstung imperialistischer Raubzüge wiederkehrten, heutzutage wenig Verbreitung finden dürfte, hat Heiko Maas bei seiner viertägigen Reise nach Brasilien, Kolumbien und Mexiko doch eine unrühmliche Vorgeschichte im Gepäck. Die Liste der halbherzigen und letztlich gescheiterten politischen Annäherungsversuche zwischen Deutschland und Lateinamerika ist lang und kaum geeignet, einen Empfang mit offenen Armen in Aussicht zu stellen.

Als Bundeskanzler ließ Helmut Kohl 1995 ein Lateinamerikakonzept erarbeiten. Bei seinem Besuch im September 1996 in Brasilien mußte er jedoch einräumen, daß deutsche Unternehmen kaum an den umfangreichen Privatisierungen der 90er Jahre in der Region beteiligt waren, sondern spanischen, französischen, portugiesischen und US-amerikanischen Konsortien das Feld überlassen hatten. Zu einem neuen Anlauf kam es 2002, als durch eine deutsch-brasilianische Infrastrukturinitiative die Investitionen nach Lateinamerika erhöht werden sollten. Dieser Vorstoß verlief jedoch mehr oder weniger im Sande, denn nach dem Besuch von Bundeskanzler Gerhard Schröder im Februar 2002 schlief das Projekt wieder ein. Schröder konzentrierte sich stattdessen bekanntlich auf Projekte mit Rußland und China. Den jüngsten Anlauf zu einer Wiederannäherung unternahm Bundeskanzlerin Angela Merkel, die im August 2015 mit der Hälfte ihres Kabinetts erstmals zu Regierungskonsultationen nach Brasilia reiste. Aufgrund der politischen Krise in Brasilien blieb es allerdings bei der einmaligen Konsultation. [2]

Der Schwerpunkt der deutschen Außenpolitik lag lange Zeit neben den traditionellen Partnern in Nordamerika eher auf Asien mit seinem explodierenden Wirtschaftswachstum, aber auch auf dem armen Nachbarkontinent Afrika und dem Nahen Osten. Künftig soll das Augenmerk nun verstärkt auf Lateinamerika gerichtet werden. Doch was könnte Maas anbieten, das seinen neuerlichen Anlauf glaubwürdiger macht? Er ist seit März 2018 Bundesaußenminister und hat Asien wie auch Afrika schon mehrfach bereist. Daß erst dreizehn Monate nach seinem Amtsantritt nun auch die erste große Lateinamerikareise folgt, zeugt nicht gerade von einer Agenda, auf der dieser Kontinent einen prominenten Platz innehat.

Wie Maas in einem Gastbeitrag im Berliner Tagesspiegel vor Antritt seiner Reise ausgeführt hat, bedürfe es angesichts der offenen Herausforderung einer Weltordnung mit klaren Regeln durch Rußland und China, des Vormarsches autoritärer Modelle und der Gefährdung des Welthandels durch Protektionismus starker Partner. Für Lateinamerika, die Karibik und Europa stehe viel auf dem Spiel. In einer Welt, in der das Recht des Stärkeren die Stärke des Rechts ersetze, könne man nur verlieren: "Wir sind keine militärischen Supermächte. Wir können und wollen anderen nicht unsere Regeln diktieren. Wenn wir mitreden wollen, wenn wir verhindern wollen, dass andere über unsere Köpfe hinweg entscheiden, dann müssen wir enger zusammenrücken."

Als verfolge deutsche Regierungspolitik nicht dieselben Interessen, andere Staaten und Weltregionen zu dominieren, beschwört der Außenminister einen Pakt vorgeblicher Opfer zur Rettung gefährdeter Werte: "Zwischen uns liegt der Atlantik. Aber wir teilen ähnliche Werte und Interessen, wir sind kulturell eng verbunden. Wir leben in den demokratischsten Regionen der Welt. Wir glauben an internationale Regeln, die für Rechtssicherheit sorgen und zu Wirtschaftswachstum und Wohlstand beitragen. Wir glauben an internationale Zusammenarbeit, weil unsere Länder von Austausch und Offenheit profitieren. Daran, dass wir zusammen stärker sind als jede und jeder von uns es alleine sein kann. Kurz gesagt: Unsere Länder sind natürliche Verbündete." Man dürfe nicht zum Kollateralschaden des Handelsstreits zwischen den USA und China werden, sondern setze auf fairen Handel, der Sozial- und Umweltstandards achtet und die Rechte von Arbeitnehmern wahrt. So sei es in den Handelsabkommen mit Chile, Mexiko, den Multiparteienabkommen mit Peru, Kolumbien und Ecuador sowie der Region Zentralamerika geschehen.

Zudem wirbt Maas für eine "digitale Revolution", in der künftig nicht nur die Wahl "zwischen einer US-amerikanischen und einer chinesischen Techno-Sphäre" bleibe, die eigene Gestaltungsansprüche zunichte mache. Auch bekenne man sich zu einer Stärkung von Frauenrechten, da es ohne Gleichstellung keine echte Demokratie gebe. Und nicht zuletzt verweist der Außenminister auf Alexander von Humboldt, dessen Traum von einer Weltregierung nicht als Utopie verlorengehen dürfe. Startschuß der Initiative, die Kräfte gemeinsam zu nutzen, werde eine Konferenz am 28. Mai in Berlin sein, zu der er seine lateinamerikanischen und karibischen Kolleginnen und Kollegen eingeladen habe: "Gemeinsam wollen wir diskutieren und unsere Partnerschaft gemeinsam neu vermessen."

Daß Heiko Maas vor allem die Menschenrechte im Sinne habe, stellen hiesige Experten und Wirtschaftsvertreter offen in Frage. Auch wenn er so argumentiere, sei das wahrscheinlich nicht die politische Priorität der Reise, meint Thomas W. O'Donnell von der Hertie School of Governance. Entscheidend sei der wachsende wirtschaftliche und politische Einfluß Chinas in der Region, das sich zu einem Produzenten hochwertiger Industriegüter entwickle. Damit mache es deutschen Herstellern Konkurrenz, die traditionell auf den Export solcher Erzeugnisse spezialisiert sind. Reinhold Festge, Vorsitzender der Lateinamerika-Initiative der Deutschen Wirtschaft, verweist darauf, daß trotz der in vielen Punkten desaströsen Politik Brasiliens die Perspektiven vom Markt her gesehen gut seien. Rund 4000 deutsche Unternehmen sind in Lateinamerika vertreten, mehr als 1000 allein in der Metropole Sao Paulo. Die deutsche Wirtschaft gehört zu den Unterstützern von Präsident Bolsonaro. "Die Zusammenarbeit zwischen der Regierung und den Unternehmern läuft sehr gut und effizient", so André Clark, CEO von Siemens in Brasilien. Und Jan Woischnik, Leiter des brasilianischen Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung, empfiehlt sogar "einen fairen und konstruktiven Umgang" mit der Bolsonaro-Administration. Denn Brasilien sei als viertgrößte Demokratie und neuntgrößte Volkswirtschaft ein außerordentlich wichtiger Partner für Deutschland.

Pflegt Heiko Maas folglich einen fairen und konstruktiven Umgang mit Jair Bolsonaro, der selbst nach den Kriterien des deutschen Geheimdienstes ein Rechtsextremist im Regierungsamt ist? Das Repressionsregime des brasilianischen Präsidenten tritt all das mit Füßen, was der deutsche Außenminister an Menschenrechten im Munde führt. Maas zog sich mit einem Spagat aus der Affäre, indem er zuerst in der Küstenmetropole Salvador da Bahia Station machte, wo er ein Netzwerk für Frauenrechte gründete, und tags darauf in Brasilia mit Bolsonaro zusammentraf - als erster Regierungsvertreter eines EU-Landes. Zuvor waren Benjamin Netanjahu und Donald Trump, die der zutiefst reaktionäre Verherrlicher der Militärdiktatur als seine Vorbilder verehrt, die prominentesten Gäste des neuen Staatschefs gewesen.

Ein Drittel aller Tötungsdelikte weltweit wird in Lateinamerika verübt, das lediglich acht Prozent der Weltbevölkerung aufweist. Bolsonaro stachelt den ohnehin stets präsenten patriarchalen und rassistischen Haß der weißen Männer gegen Frauen und jegliche Minderheiten an, so daß die Mordrate während seines Regimes weiter steigen wird. Hat Heiko Maas etwas durcheinandergebracht, wenn er im deutschen Vorsitz des UN-Sicherheitsrats für Frauenrechte wirbt und doch diesem Mann die Hand schüttelt? "Wir wollen auf der Weltbühne zusammen für Demokratie, Menschenrechte und faire Regeln einstehen. Wir wollen dazu beitragen, dass unser geteiltes Wertefundament weiter wächst", so der deutsche Außenminister. Ist Bolsonaro einer jener Verbündeten, mit dem Maas den "Rollback von Populisten und Autoritären aufhalten" will? [3]

Nächste Station seiner Reise ist Kolumbien, wo sich Maas für "Frieden und Stabilität" einsetzen will. Neben Gesprächen mit Staatschef Iván Duque und Außenminister Carlos Holmes Trujillo steht auch der Besuch eines Camps zur Reintegration ehemaliger FARC-Kämpfer auf dem Programm. Wird sich der deutsche Außenminister dabei zu der anhaltenden Gewalt gegen frühere Guerilleros und deren Angehörige äußern, wo doch nach UN-Angaben seit Unterzeichnung des Friedensvertrages Ende 2016 mindestens 129 FARC-Mitglieder ermordet worden sind? Fest steht indessen, daß Maas in Bogotá auch mit Oppositionsvertretern aus Venezuela zusammentreffen wird. Ein Besuch in Caracas und Gespräche mit der Regierung von Präsident Nicolás Maduro sind nicht vorgesehen. Offenbar beherrscht der deutsche Außenminister das seltene Kunststück, als Vermittler zum Frieden beizutragen, ohne mit beiden Konfliktparteien zu sprechen. [4]

Der lateinamerikanische Markt ist für die deutsche Wirtschaft jedenfalls interessant, rechnet der Deutsche Industrie- und Handelskammertag doch für 2019 mit einem Exportwachstum hiesiger Unternehmen von über fünf Prozent. Das deutsche Exportvolumen nach Lateinamerika könnte sich von 35,5 Mrd. auf 38 Mrd. Euro erhöhen, die Beschäftigtenzahl in den deutschen Tochtergesellschaften von 575.000 auf knapp 600.000 steigen. Daß die Raten nicht noch viel höher ausfallen, führt man in Berlin vor allem auf China zurück, welches das abnehmende Interesse der USA und das stagnierende Engagement der Europäer in den vergangenen Jahrzehnten für eine Expansion auf dem Kontinent genutzt hat. Chinesische Unternehmen und Kreditinstitute gehören zu den wichtigsten Financiers großer Infrastruktur- und Energieprojekte in der Region. Seit 2002 hat China an mindestens 150 Großprojekten in der Region Interesse bekundet, bei etwa der Hälfte haben die Bauarbeiten bereits begonnen. Neun Länder aus Lateinamerika und der Karibik haben sich der chinesischen Infrastrukturinitiative Neue Seidenstraße angeschlossen, darunter Ecuador und Chile. Bei dem großen Seidenstraßengipfel in Peking in der vergangenen Woche unterzeichnete auch Peru eine Absichtserklärung zur Teilnahme an dem milliardenschweren Projekt, Argentinien bekundete Interesse. [5]

Obgleich der Zug also längst abgefahren ist, hetzt die Bundesregierung hinterher, um verlorenen Boden gutzumachen. Was in der Vergangenheit als trockenes Zubrot deutscher Expansionsgelüste eher verschmäht wurde, soll nun als Notnagel herhalten. Angesichts massiver Verwerfungen der sicher geglaubten Einbettung in eine Weltordnung grenzenloser Durchsetzung der eigenen volkswirtschaftlichen Stärke dient sich Berlin den Ländern Lateinamerikas als kleinerer Räuber an, auf daß man einen Rettungspakt gegen die größten Räuber schließe. Einen Präsidenten wie Bolsonaro, der das eigene Land samt allen Ressourcen zur hemmungslosen Ausplünderung durch die nationalen Wirtschaftseliten freigegeben hat und dabei über Leichen geht, dürfte allenfalls goutieren, was deutsche Unternehmen an ihm schätzen. Die von ihm zutiefst verachteten Menschenrechte müssen indessen kein Hinderungsgrund sein, sich mit Heiko Maas augenzwinkernd darüber zu verständigen, was Feigenblätter von substantiellen Schnittmengen beiderseitiger Wirtschaftsinteressen unterscheidet.


Fußnoten:

[1] www.tagesspiegel.de/politik/fuer-uns-steht-viel-auf-dem-spiel-heiko-maas-plaediert-fuer-eine-neue-transatlantische-allianz/24265758.html

[2] www.dw.com/de/zeigt-lateinamerika-maas-die-kalte-schulter/a-48537104

[3] www.waz.de/politik/maas-beginnt-lateinamerika-reise-in-brasilien-id217049765.html

[4] www.jungewelt.de/artikel/353842.lateinamerika-reise-händeschütteln-mit-bolsonaro.html

[5] www.zeit.de/politik/ausland/2019-04/heiko-maas-brasilien-nationalismus-populismus-jair-bolsonaro-bundesaussenminister

30. April 2019


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