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RAUB/1227: Sterbehilfe - ins eigene Fleisch ... (SB)



Auslöser waren die liberalen D66-Demokraten: Die Partei macht sich seit Jahren für ein Gesetz stark, das es auch alten, aber gesunden Menschen ermöglichen soll, Sterbehilfe zu bekommen - nämlich dann, wenn sie ihr Leben als vollendet betrachten.
Aus einem Bericht über die Ausweitung ärztlicher Sterbehilfe in den Niederlanden [1]

Es war nicht immer so, daß die gesellschaftliche Linke mehrheitlich der Liberalisierung des ärztlichen Tötungsverbotes den Zuschlag gegeben hat. Vor dem Hintergrund der systematischen Ermordung behinderter Menschen durch das NS-Regime wurde der Begriff des vermeintlich schönen Todes - Euthanasie - lange Zeit als Mahnung verstanden, eugenische Lebenswertideologien und utilitaristische Kosten-Nutzen-Abwägungen strikt zu verneinen. Heute gehen viele links eingestellte Menschen mit der Legalisierung ärztlicher Sterbehilfe schon deshalb konform, weil die dagegen gerichteten Gruppen meist im wertkonservativen Lager zu finden sind, wo das Tötungsverbot religiös begründet und vor allem auch zur Durchsetzung des Abtreibungsverbotes angeführt wird. Hier genauer zu differenzieren fällt anscheinend nicht mehr so leicht. Wo bis in die 1990er Jahre hinein in der radikalen Linken selbstverständlich war, die Selbstbestimmung der Frau und damit das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch von der Legalisierung des ärztlich herbeigeführten Todes im Grundsatz zu unterscheiden, mehren sich heute zum Beispiel in der Linkspartei Stimmen, die die Legalisierung ärztlicher Sterbehilfe für ein emanzipatorisches Anliegen halten.

Dabei gibt es nach wie vor sehr relevante, nicht religiös oder bioethisch, sondern materialistisch und philosophisch bestimmte Gründe, die Anwendung des Selbstbestimmungsprinzipes auf die Legalisierung ärztlicher Sterbehilfe als gefährliche Verabsolutierung eines Autonomieanspruches zu kritisieren, der im Kern individueller Freiheit ohnehin nicht eingeschränkt werden kann. Dafür spricht schon die Zahl von etwa 10.000 vollzogenen Suiziden pro Jahr in Deutschland. Wenn es so etwas wie eine ultimative Möglichkeit des Menschen gibt, seine Autonomie zumindest negativ behaupten zu können, dann besteht diese im Freitod. Dazu bedarf es keiner Erlaubnis von wem auch immer, und kein sanktionierendes Recht reicht so weit wie die Entscheidung, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen.

Die prinzipielle Möglichkeit, sich allen Widrigkeiten und Schmerzen durch den selbst herbeigeführten Tod zu entziehen, ist jedoch mit dem professionellen Anspruch, dies ungestraft tun zu können, keineswegs gleichzusetzen. So wurde die Hilfe beim Suizid durch Vertraute oder Verwandte in der Bundesrepublik weitgehend entkriminalisiert, weil es sich dabei um einen persönlichen Akt menschlicher Zuwendung handelt, der aus einer tiefen sozialen Beziehung erwächst. Das nun vom Bundesverfassungsgericht gekippte Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe jedoch betraf nicht nur kommerzielle Sterbehilfeorganisationen, sondern auch ÄrztInnen, die sich aufgrund ihrer beruflichen Qualifikation berufen fühlen, dem Wunsch eines Menschen nach assistiertem Suizid im Endstadium einer todbringenden Erkrankung zu entsprechen.

Der Verweis der Karlsruher Richter, dabei handle es sich um eine Form selbstbestimmten Sterbens, trifft jedoch nur dort wirklich zu, wo PatientInnen körperlich nicht mehr in der Lage sind, ihrem Leben in eigener Entscheidung, etwa durch Sterbefasten, ein Ende zu bereiten oder dabei um die Hilfe von FreundInnen oder Verwandten zu bitten. So stand am Beginn der Forderung nach Legalisierung ärztlicher Sterbehilfe das Argument im Mittelpunkt, unerträgliche Schmerzen bei weitgehend bewegungsunfähigen PatientInnen, die nicht aus eigenen Stücken Suizid begehen könnten, beenden zu können. Es sollte um streng eingegrenzte Ausnahmefälle gehen anstatt, wie es am Horizont der heutigen Entwicklung steht, um die letztlich bedingungslose Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe beim Suizid.

So wird der Kreis der Anspruchsberechtigten insbesondere in Belgien und den Niederlanden unter dem Anspruch, es gehe um selbstbestimmtes Sterben, systematisch erweitert. Dabei werden in den Niederlanden auch nichteinwilligungsfähige Menschen - etwa an Demenz erkrankte oder geistig behinderte PatientInnen - aufgrund von Angaben der Angehörigen der dort auch so bezeichneten Euthanasie zugeführt. Dabei kann ein bioethisch bestimmter "Lebenswert" den Ausschlag geben, bei dessen Abwesenheit sich das Leben eines Menschen dem Urteil seiner sozialen Umgebung oder der ÄrztInnen nach nicht mehr lohnen soll.

Dieser ein vermeintlich isoliertes Individuum betreffende "benefit" läßt sich jedoch gar nicht exakt von den Versäumnissen der Mitmenschen abgrenzen, der jeweiligen PatientIn so viel Aufmerksamkeit und Zuwendung zukommen zu lassen, daß das Leben auch in seiner Endphase aus subjektiver Sicht durchaus "lebenswert" sein kann. Wie kommt ein organisch gesunder älterer Mensch dazu, sein Leben als "vollendet" oder "erfüllt" zu betrachten, womit künftig in den Niederlanden die Voraussetzung gegeben sein könnte, einen assistierten Suizid in Anspruch zu nehmen? Es ist praktisch unmöglich, die Umstände, aufgrund derer Menschen "keine Möglichkeit mehr" sehen, "ihrem Leben einen Sinn zu geben", die sie "tief betroffen vom Verlust ihrer Unabhängigkeit'" machen" oder deretwegen sie sich "isoliert oder einsam" fühlen [2], zu einem allein subjektiven Problem zu erheben. Menschliche Lebewesen sind zutiefst auf sozialen Kontakt angewiesen, ihre emotionale Verfaßtheit und ihr Selbstwertgefühl stehen und fallen mit den Umständen, in denen sie leben, wie die seelischen Krisen vereinsamter Menschen und ihre Überwindung durch neue Freundschaften belegen.

So kann das Angebot der ärztlichen Sterbehilfe durchaus soziale Mißstände kompensieren oder die Lösung familiärer Konflikte bis hin zu Erbschaftsstreitigkeiten erleichtern. Erst recht zeigt sich die Gefahr, die aus der zweckrationalen Entkopplung menschlicher Subjektivität und objektiver Vergesellschaftung bei der Ausweitung legaler Sterbehilfe erwächst, in der Anwendung der gesundheitspolitischen Faustregel, laut der 90 Prozent aller medizinisch anfallenden Kosten im Leben eines Menschen in dessen finalem Lebensjahr anfallen [3]. Schon vor über 20 Jahren gab ein Ärztekammerpräsident angesichts der Kostenprobleme im Gesundheitswesen zu bedenken, ob man nicht das "sozialverträgliche Frühableben" fördern müsse. Seitdem ist die Diskussion des Herbeiführens vorzeitigen Sterbens als Universallösung für ökonomische und soziale Probleme aller Art nicht abgeebbt.

Während mehrere Frauenärztinnen in jüngster Zeit wegen des Verstoßes gegen das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbruch nach Paragraf 219 a mit Geldstrafen belegt wurden, kam es in den letzten fünf Jahren zu keiner Verurteilung wegen Verstosses gegen das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe nach dem heute in Karlsruhe als verfassungswidrig erachteten Paragrafen 217. Der geltend gemachte Handlungsbedarf, die Kriminalisierung ärztlichen Handelns zu beenden, ist auch deshalb gering, weil die klinische Praxis, PatientInnen im Endstadium das Sterben durch besonders hoch dosierte Betäubungsmittel zu erleichtern, längst als strafrechtlich weitgehend irrelevant gehandhabt wird.

Der vermeintliche Fortschritt medizinethischer Aufweichung des ärztlichen Tötungsverbotes erweist sich denn auch als Resultat eines politischen Liberalismus, dessen Freiheitsverständnis klassengesellschaftliche Gewaltverhältnisse gezielt ausblendet. An deren Stelle tritt ein legalistisch motiviertes Individualrecht, das dem Vollzug vermeintlicher Sachzwänge administrativer und berufsständischer Art freie Hand gibt. Wenn das Bundesverfassungsgericht konstatiert, es dürfe kein sozialer Druck ausgeübt werden, denn der freie Wille sei Voraussetzung für den assistierten Suizid, ist das nicht viel besser als Pfeifen im Wald. Vor dem zentralen Problem, in einer existenziell bedrängten Situation keinen suggestiven Manipulationen ausgesetzt zu werden, schützt am ehesten noch die Behinderung institutioneller Einflußnahme, die ökonomischen und betrieblichen Argumenten freie Bahn geben könnte.

Wird zudem verfügt, daß das Recht auf Freitod nicht auf schwere oder unheilbare Krankheiten oder hohes Alter beschränkt sei, sondern für die gesamte menschliche Existenz gelte, erweist sich das Karlsruher Gericht als Stimme einer Staatsräson, die sich anmaßt, die selbstverständliche, genuin vorstaatliche Autonomie jedes Menschen rechtsförmig und damit verwaltbar zu machen. Im schlimmsten Fall wird damit der Fluchtpunkt der niederländischen Lösung anvisiert, vorzeitiges Ableben zur Universallösung für die sozialökonomischen Härten des Alters zu erheben. Auf jeden Fall kommt die individuelle Erstellung einer gesundheitsökonomischen Leistungsbilanz und ihre Anrechnung auf die gesamtgesellschaftliche Kosten-Nutzen-Rechnung auf leisen Füßen und erfolgt in bester Absicht [4]. Aus der Sicht von Menschen, an deren Krankenbett auf mehr oder minder subtile Weise deutlich gemacht wird, daß nun genug Aufwand um die Aufrechterhaltung ihres Lebens betrieben wurde und es allmählich an der Zeit sei abzutreten, handelt es sich bei diesem liberalen Fortschrittsethos um eine Mogelpackung, die die unmißverständliche Aufforderung zu vorauseilendem Gehorsam enthält.


Fußnoten:

[1] https://www.deutschlandfunk.de/niederlande-debatte-ueber-sterbehilfe-fuer-gesunde.795.de.html?dram:article_id=471033

[2] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/70896/Niederlande-will-Recht-auf-Sterbehilfe-fuer-Aeltere-einfuehren

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub1135.html

[4] http://www.schattenblick.de/infopool/pannwitz/report/pprb0024.html

26. Februar 2020


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