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REPRESSION/1356: Krieg den Hütten in der Olympiastadt Rio (SB)



Als Rio de Janeiro kürzlich Madrid, Tokio und Chicago in der Konkurrenz um die Austragung der Olympischen Sommerspiele 2016 ausstach und die brasilianischen Bewerber versicherten, sie könnten in sieben Jahren gewaltfreie und sichere Spiele in der Metropole garantieren, die unter den Kandidatenstädten mit Abstand als die gefährlichste für Leib und Leben galt, mußte man das Schlimmste befürchten. Brasilien wird die zuvor im Land ausgetragene Fußballweltmeisterschaft und die Olympiade zum Anlaß nehmen, seine innenpolitischen Verhältnisse zugunsten einer repressiven Sicherheitsarchitektur zu konfigurieren, um im Kampf gegen die eskalierende Hungerrevolte aufzurüsten. Rio de Janeiro, wo Elendsquartiere in unmittelbarer Nachbarschaft der von Touristen meistfrequentierten Stadtteile liegen, gilt diesbezüglich als Schlachtfeld erbitterter Auseinandersetzungen und damit zugleich als Experimentierfeld innovativer Strategien des Bürgerkriegs.

Die Probe aufs Exempel gaben am Wochenende blutige Kämpfe in Armenvierteln, in deren Verlauf vierzehn Menschen getötet wurden. Offenbar hatten die Schießereien begonnen, als die Polizei die Favela Morro dos Macacos ("Affenhügel") im Norden der Stadt stürmte. Am Himmel standen düstere Rauchwolken, während acht Busse in Flammen aufgingen, Teile der Stadt sahen wie ein Kriegsgebiet aus. Über einem Armenquartier wurde ein Polizeihubschrauber abgeschossen, der sich auf einem Erkundungsflug befand. Dabei starben zwei Polizisten, mehrere weitere wurden verletzt.

So erbittert verliefen die stundenlangen Feuergefechte, daß die Polizei von Rio de Janeiro ihre Patrouillen durch 3.500 Soldaten verstärkte und Tausende zusätzliche Sicherheitskräfte in die betroffenen Stadtteile entsandte. Nach Angaben des Sicherheitschefs des Bundesstaats Rio de Janeiro wurden 4.500 Beamte als Verstärkung aus umliegenden Regionen in die Metropole gerufen. Wie es hieß, sei für Polizisten eine Urlaubssperre verhängt worden, weitere Angehörige der Zivil- und Militärpolizei seien in Alarmbereitschaft versetzt worden.

Dieses Bürgerkriegsszenario mit zahlreichen Toten und Verletzten in einem Stadtteil, der keine zehn Kilometer vom berühmten Maracanò-Stadion entfernt liegt, in dem am 5. und 21. August 2016 die Eröffnungs- und Abschlußfeier der Olympischen Spiele stattfinden soll, war keineswegs ein Ausnahmezustand, sondern allenfalls eine kurzfristige Eskalation der Normalität. Offiziellen Statistiken zufolge werden in der sechs Millionen Einwohner zählenden Metropole jährlich rund 6.000 Morde verübt, liefern sich Polizei und schwerbewaffnete Gegner fast täglich Schießereien.

An welchen Widersprüchen sich diese mörderischen Konflikte entzünden und entfalten, wird in der Berichterstattung der Mainstreammedien weithin ausgeblendet. Da ist von massiven Gewaltausbrüchen in den Armenvierteln von Rio de Janeiro die Rede, als handle es sich um ein Naturphänomen, das in unvorhersehbaren Intervallen zur Explosion drängt. Ein massives Aufgebot an Sicherheitskräften habe versucht, die Gewalt einzudämmen, fließt aus derselben Journalistenfeder, die wenige Zeilen entfernt den Sturm auf den "Affenhügel" durch Polizeikräfte als Auslöser der Schießereien bezeichnet, ohne Probleme mit der Unvereinbarkeit der beiden Aussagen zu bekommen. Viele der tausend Armenviertel der Stadt würden von rivalisierenden Drogenbanden beherrscht, heißt es weiter, um lapidar hinzuzufügen, daß es zu Gefechten zwischen Sicherheitskräften und dem Drogenmilieu gekommen sei.

Daß die Gegner ebenso pauschal als Drogenhändler bezeichnet werden wie die Opfer des Schußwechsels, erinnert fatal an andere Kriegsschauplätze in aller Welt, auf denen man ebenfalls ein fabriziertes Feindbild vorhält, um eine Situation staatlicher oder überstaatlicher Verfügungsgewalt zu rechtfertigen und die bekämpften Kräfte zu delegitimieren. Das Phänomen des Drogenhandels in den Favelas wird aus dem Kontext der Überlebenssicherung in tiefster Armut und den daraus resultierenden Kämpfen gerissen und in seiner Verabsolutierung zu Delinquenz und Gewalttätigkeit nicht nur unzulässig verkürzt, sondern auch zu einem wie selbstverständlich zu sanktionierenden, auszugrenzenden und vernichtenden Komplex erklärt.

Auf diese Weise verfremdet man die herrschenden Widersprüche zu einem Inventar staatlicher Ordnung oder Wiederherstellung derselben. Auf der Strecke bleiben tote Drogenhändler, denen man keine Träne nachzuweinen braucht, ja deren Eliminierung zu einem Zugewinn an besseren Lebensverhältnissen umgedeutet wird. Schließt man sich dieser Herrschaftslogik an, findet man nichts mehr dabei, wenn einem ein paar Hungerleider weniger, von denen es ohnehin viel zu viele gibt, auf die Nerven gehen.

19. Oktober 2009