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REPRESSION/1442: Zwei Jahre seines Lebens - Physiker Dr. Adlène Hicheur in französischer U-Haft (SB)



Die Frage, ob der algerischstämmige Physiker Dr. Adlène Hicheur (34) die von Frankreich als Terrorgruppe ausgemachte Organisation Al Qaida im Maghreb (AQIM) in irgendeiner strafrechtlich relevanten Weise unterstützt hat, sollte eigentlich schnell zu klären sein. Doch die französische Justiz verschleppt anscheinend den Prozeß gegen den von der Polizei und dem Inlandgeheimdienst am 8. Oktober 2009 zusammen mit seinem jüngeren Bruder Halim in Vienne verhafteten Dozenten für theoretische Physik, der an der École polytechnique fédérale de Lausanne und am Teilchenbeschleuniger CERN bei Genf gearbeitet hat. Während der damals 25jährige Bruder nach zwei Tagen freigelassen wurde, schmort der Physiker seitdem im Untersuchungsgefängnis Fresnes.

Dem Verhafteten wird vorgeworfen, er habe Verbindungen zur AQIM aufgenommen und sich sowohl in E-Mails als auch auf Internetforen für das Verüben von Anschlägen ausgesprochen. Darüber hinaus soll er der AQIM potentielle Anschlagsziele in Frankreich genannt haben. Nichts von dem, was die Behörden an mutmaßlichem Belastungsmaterial freigegeben haben, geht über solche und ähnliche Verdächtigungen hinaus. Hicheur hat wiederholt seine Unschuld beteuert und die Vorwürfe als vollkommen falsch bezeichnet. Eine Gruppe von ursprünglich 19 Wissenschaftlern, unter ihnen der Physiknobelpreisträger Jack Steinberger, hat ein Unterstützerkomitee gegründet; inzwischen erhält Hicheur von einer weltweiten Bewegung Zuspruch.

Nach der französischen Terrorismusgesetzgebung darf eine Person bis zu 24 Monate inhaftiert bleiben, ohne daß ein Verfahren gegen sie eröffnet werden oder auch nur die Aussicht auf ein Verfahren bestehen muß. Das UN-Menschenrechtskomitee kritisiert, daß in Frankreich Personen, die des Terrorismus oder der organisierten Kriminalität verdächtigt werden, sogar insgesamt bis zu vier Jahre und acht Monate in Untersuchungshaft bleiben können. [1]

Adlène Hicheur und seine Familie erfahren nun den Willkürcharakter eines solchen Rechts. Es ist völlig unklar, ob der Inhaftierte die geringste Absicht, eine Straftat zu begehen, besaß oder ob er lediglich seinen Gefühlen etwas freien Lauf ließ. Heutzutage erfüllen Internetforen die Funktion von Stammtischen, an denen den Teilnehmern schon mal die Gäule durchgehen. Würden alle Personen, die im Internet anderen die Pest an den Hals wünschen oder jemanden durch den Fleischwolf drehen wollen, verhaftet, reichten die Knastkapazitäten nicht aus, und der öffentlichen Ordnung drohte der Kollaps, weil viele Funktionen nicht mehr besetzt wären.

Sollten gegen Adlène Hicheur handfestere Beweise vorliegen, beispielsweise daß er an konkreten Anschlagsvorbereitungen beteiligt war, so sollten sie vorgelegt werden, damit der Angeklagte die Chance erhält, sich zu verteidigen.

Frankreich überschreitet mit seiner Terrorismusgesetzgebung die Schwelle zu einem diktatorischen Regime. Keine Regierung hat jemals von sich gesagt, sie sei eine Diktatur. Alle haben sich auf vermeintliche Notwendigkeiten, Zwänge und ihre Pflicht zur Wahrung rechtstaatliche Gepflogenheiten berufen. Das gilt auch für Frankreich, das laut einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch [2] seit Mitte der 1980er Jahre ein "präemptives Strafrechtssystem der Terrorismusbekämpfung" etabliert hat. 1996 seien die Befugnisse der Strafverfolgungsbehörden ausgebaut worden, so daß sie weit vor einer Straftat, ja, sogar der spezifischen Planung Personen aus dem Verkehr ziehen dürfen.

Human Rights Watch erklärte, daß die französischen Antiterrorgesetze das Recht der Angeklagten "auf ein faires Verfahren" untergraben. Angeklagte dürften zu jeder Tages- und Nachtzeit harschen Verhören unterzogen werden, ohne daß ein Anwalt zugegen sein müsse. Terrorverdächtige würden üblicherweise Schlafentzug, Desorientierung, wiederholter, anhaltender Verhöre und psychischem Druck ausgesetzt. Auch physische Mißhandlungen kämen vor.

Typisches Merkmal eines diktatorischen Regimes ist die Verhaftung von Oppositionellen oder mutmaßlichen Oppositionellen auf der Basis eines Rechts, das sich gegen den eigentlichen Souverän richtet, zu dessen Schutz es eigentlich gedacht sein sollte. Die lange Haftzeit ohne Eröffnung eines Verfahrens verschafft den französischen Strafverfolgern nicht nur Zeit, einer irrtümlichen Verhaftung nachträglich den Anschein von Legitimität zu verleihen, sondern auch, Vorwürfe zu konstruieren und durch Indizien, die willkürlich zusammengestellt werden und einen diffusen Eindruck von Schuld erzeugen, auszubauen. Die mutmaßlich Verdächtigen sollen in dieser langen Haftzeit offenbar psychisch und physisch mürbe gemacht werden, was die Aussicht erhöht, daß sie sich durch ihre Aussagen selbst reinreiten. Auch wenn der Physiker jetzt freigelassen würde, bliebe ein Makel haften, der ihm jede Karrierechance in Frankreich vereiteln dürfte.

Die Verhaftung Adlène Hicheurs erfolgte nicht widerrechtlich. Das Recht ist nicht Teil der Lösung, sondern des Problems. Frankreich produziert durch seine aggressive, hegemonial orientierte Außenpolitik - zuletzt demonstriert in der Elfenbeinküste und Libyen - laufend neue Anlässe, weswegen Menschen zu Widerstandsformen jenseits der ihnen zugestandenen legalen Mittel und Methoden greifen. Innenpolitisch ringt der französische Staat mit harter Hand eklatante soziale Gegensätze nieder. Müßte nicht auch der frühere französische Innenminister und heutige Präsident Nicolas Sarkozy in U-Haft genommen werden, da er vorschlug, daß die Pariser Vorstadt La Courneuve "mit einem Kärcher gereinigt werden" solle? Angesichts des vorwiegend von Einwanderern aus Afrika bewohnten Stadtteils trägt ein solcher Vorschlag den Beigeschmack eines Aufrufs zur ethnischen Säuberung. Sarkozys Aussage hat die Unruhen in Frankreich 2005 angeheizt und im Internet zu wütenden Meinungsbekundungen geführt. So verschafft sich der Sicherheitsstaat selbst die Vorwände, um seine Befugnisse immer weiter auszubauen.


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Fußnoten:

[1] http://daccess-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G08/433/56/PDF/G0843356.pdf?OpenElement

[2] http://www.hrw.org/reports/2008/france0708/france0708web.pdf

14. Oktober 2011