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REPRESSION/1484: Tod in israelischer Haft - Ende des Schweigens? (SB)




Mitunter setzt der Tod eines einzelnen Menschen in Bewegung, was das allzu lange ausgeblendete Leiden vieler nicht zu rühren vermochte. Das Schicksal des in israelischer Haft gestorbenen Arafat Dscharadat wirft ein Schlaglicht auf Tausende Palästinenser, die als politische Gefangene in den Gefängnissen Israels festgehalten werden. Für Dscharadats Angehörige und Landsleute ist das keine neue Erfahrung, wurden doch nach Schätzungen der Vereinten Nationen seit 1967 rund 800.000 Palästinenser verhaftet, was einem Fünftel der Gesamtbevölkerung in den besetzten Gebieten entspricht. [1]

Der 30 Jahre alte Familienvater Dscharadat wurde am 18. Februar bei Auseinandersetzungen nahe der jüdischen Siedlung Kirjat Arba unweit von Hebron festgenommen, wofür der israelische Inlandsgeheimdienst Schabak (früher: Schin Bet) zur Begründung anführt, Zeugenaussagen zufolge habe er Steine geworfen und einen Israeli verletzt. Nach Angaben seiner Angehörigen war er zum Zeitpunkt der Festnahme bei bester Gesundheit, doch sei er von den Sicherheitskräften geschlagen worden. Am 23. Februar starb Dscharadat unter ungeklärten Umständen in einem Gefängnis im Norden Israels. Laut offizieller Version hatte sich der Gefangene nach dem Mittagessen unwohl gefühlt und sei vermutlich einem Herzstillstand erlegen. Zu Hilfe gerufene Ärzte hätten ihn nicht mehr retten können. Palästinenser und Menschenrechtsorganisationen hielten diese Erklärung für unglaubwürdig und forderten eine Untersuchung, da Dscharadat mutmaßlich in Folge der Verhörpraktiken zu Tode gekommen sei. [2]

Um den Folterverdacht zu entkräften, wurde in einem höchst ungewöhnlichen Schritt die Gegenwart palästinensischer Ärzte und Familienangehöriger bei der Autopsie des Toten gestattet. Dabei kam der palästinensische Chefpathologe Saber Alul zu dem Schluß, daß Dscharadat an den Folgen "extremer Folter" gestorben sei. Seine Leiche habe mehrere gebrochene Rippen und an Hals, Rücken und Brust Blutergüsse aufgewiesen. Sein Vater Abu Mohammed Dscharadat, der den Leichnam noch vor der Obduktion zu sehen bekam, berichtete, er habe Spuren von Gewaltanwendung sowie Blut auf Gesicht und Körper gesehen. Das israelische Gesundheitsministerium kam jedoch in einer offiziellen Stellungnahme zu einem anderen Schluß:

(...) Bei der Autopsie wurden keine Anzeichen externer Traumata gefunden, außer solchen, die von der Wiederbelebung [den Versuchen zur Wiederbelebung] herrührten und einer kleinen Schürfwunde an seiner rechten Brust. Die Autopsie ergab keinen Hinweis auf eine Krankheit.
Zwei Blutergüsse wurden festgestellt, einer an der Schulter und ein weiterer an der rechten Seite der Brust. Zwei Rippen waren gebrochen, was auf Wiederbelebungsversuche hinweist. Die Ergebnisse weisen auf keine eindeutige Todesursache hin. Solange die Ergebnisse der mikroskopischen und toxikologischen Untersuchungen nicht vorliegen, kann die Todesursache nicht festgestellt werden. [3]

Die heftige Reaktion auf den Tod Arafat Dscharadats ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen seit 1967 Tausende palästinensische Häftlinge gefoltert wurden und mehr als 200 Gefangene in israelischer Haft gestorben sind. Bereits am folgenden Tag begannen 4500 palästinensische Gefangene einen kurzfristigen Hungerstreik, um gegen den Tod Dscharadats und ihre Haftbedingungen zu protestieren. Einer von ihnen, Samer Issawi aus Ost-Jerusalem, nimmt bereits seit 216 Tagen keine feste Nahrung zu sich. Wie er angekündigt hat, wolle er den Protest bis zum Tod oder seiner Freilassung fortsetzen. In der vergangenen Woche hatte UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon gefordert, die Festgehaltenen müßten entweder angeklagt und gemäß internationalen Standards vor Gericht gestellt oder freigelassen werden. Dem langfristigen Hungerstreik von vier Gefangenen, deren Zustand sich dramatisch verschlechtert hat, haben sich inzwischen sieben weitere Häftlinge angeschlossen, darunter die Schwester eines der Beteiligten.

Bis 1999 wandte der Inlandsgeheimdienst durch israelisches Recht legalisierte Verhörmethoden an, die vom United Nations Committee Against Torture zwei Jahre zuvor als Folter eingestuft worden waren. Obgleich der Oberste Gerichtshof am 6. September 1999 die Anwendung von Folter als Verhörmethode verbot, berichtet die israelische Menschenrechtsorganisation B'Tselem, daß diese in den Gefängnissen weiter praktiziert werde. Dazu gehörten Isolationshaft und kein Zugang zu Rechtsanwälten und Familienmitgliedern. Die palästinensische Vereinigung für Gefangene erklärte am 26. Oktober 2009, daß im laufenden Jahr 2.000 Folterfälle bekanntgeworden seien. [4]

Besonders erschreckend ist in diesem Zusammenhang, daß sich unter den Gefangenen Mitte letzten Jahres rund 220 Jugendliche befanden, von denen 35 jünger als 16 Jahre alt waren. Am 18. Juli 2012 sprach der palästinensische Minister für Gefangenenangelegenheiten, Issa Qaraqe, von 700 Minderjährigen, die jährlich seitens der Besatzungsmächte inhaftiert würden. Von den zwischen 12 und 17 Jahre jungen Inhaftierten würden 90 Prozent Opfer von Folter und Mißhandlung. Man klassifiziere diese Kinder als Gefahrenherde und "tickende Bomben", was es dem Gefängnissystem erlaube, bestimmte Arten von Folter anzuwenden, die Immunität der Minderjährigen aufzuheben und internationales Recht zu umgehen. [5]

Im Juli 2003 berichtete die International Federation for Human Rights (FIDH), daß Israel inhaftierte Palästinenser nicht als Kriegsgefangene, sondern als "Terroristen" oder politisch motivierte Kriminelle einstuft. Sie würden entweder wegen "terroristischer" Straftatbestände und Gewaltverbrechen angeklagt oder ohne Anklage in Administrativhaft genommen. Letztere gestattet es, Palästinenser auf unbestimmte Zeit ohne Anklage und Prozeß festzuhalten. Die EU hat dies kritisiert, ohne jedoch ihren Einwänden auf wirksame Weise Nachdruck zu verleihen.

Diese kurze Zusammenschau einiger maßgeblicher Eckdaten und Gesichtspunkte, die sich durch dokumentierte Aussagen und Erfahrungsberichte Betroffener weitreichend stützen und vertiefen lassen, läßt schon für sich genommen den Schluß zu, von politischen Gefangenen zu sprechen. Sie wirft zugleich Fragen auf, die die Rechtsstaatlichkeit Israels, das sich vor dem Arabischen Frühling als einzige Demokratie im Nahen Osten bezeichnete, im Umgang mit den Palästinensern in Zweifel ziehen. Nähme die sogenannte westliche Wertegemeinschaft ihre übrigens auch im eigenen Land durchaus gebrochene demokratische Prinzipientreue ernst, müßte sie angesichts willkürlicher und massenhafter Inhaftierung, unbegrenzter Gefangenschaft ohne Rechtsmittel, systematischer Mißhandlung bis hin zur Folter, gewaltsamer Übergriffe gegen Minderjährige und vieler anderer Zwangsmaßnahmen repressiver Staatlichkeit Israels die Stimme weit lauter als bisher erheben und ihre Sanktionsmöglichkeiten ausschöpfen, anstatt schlimmstenfalls mit ihnen zu drohen.

Daß doppelte Standards in Menschenrechtsfragen und die politische Rücksichtnahme gegenüber der Regierung Netanjahu das Feld der deutschen Außenpolitik beherrschen, ist nicht allein Resultat der auf höchster politischer Ebene vorgenommenen Gleichsetzung deutscher mit israelischer Staatsräson. Es ist auch eine Folge bundesdeutscher Mediendoktrin, angemessene Berichterstattung über die Lage der Palästinenser unter das Verdikt antiisraelischer Propaganda zu stellen. Immerhin ist dieser Tage zu beobachten, daß der Tod Arafat Dscharadats in der deutschen Presse ausführlich behandelt wird und man beide Seiten zu Wort kommen läßt, ohne die palästinensische zu diskreditieren. Das reicht mangels klarer Bewertung anhand der Fakten oder gar entschiedener Positionierung in dieser Widerspruchslage keinesfalls aus, könnte aber ein Anfang sein, noch nicht restlos verschüttete Impulse von Humanität und Parteinahme für die Schwächeren bei einer Leserschaft wachzurufen, die sich ihren eigene Reim darauf machen kann.

Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/politik/ausland/hungerstreik-und-massenprotest-israel-fuerchtet-eine-dritte-intifada-a-885429.html

[2] http://www.spiegel.de/politik/ausland/israel-palaestinensische-haeftlinge-treten-in-hungerstreik-a-885267.html

[3] http://www.02elf.net/politik/israel/stellungnahme-des-gesundheitsministeriums-zum-tod-von-arafat-dscharadat-22724

[4] http://www.palaestina.org/index.php?id=149

[5] http://german.pnn.ps/index.php/the-wall/900-qaraqe-jaehrlich-700-minderjaehrige-palaestinensische-gefangene-in-israelischen-gefaengnissen-90-davon-werden-opfer-von-folter

26. Februar 2013