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REPRESSION/1539: Ausnahmezustand als Regelfall - Dramaturgie der Machtergreifung (SB)



Wer im historischen Nachvollzug jemals der Frage nachgegangen ist, wie die Machtergreifung despotischer Regime möglich war, ohne daß ihr entschiedener Widerstand der einheimischen Bevölkerung und wirksame Maßnahmen seitens anderer Staaten Einhalt geboten hätten, sieht sich im Falle Recep Tayyip Erdogans und der AKP-Regierung in der Türkei mit einer zeitgenössischen Variante desselben Musters repressiver Herrschaft konfrontiert. Die obligatorische Ausflucht, man habe nichts geahnt und gewußt, bis es zu spät gewesen sei, ist nicht allein vor dem Hintergrund präsenter Lehren aus der Geschichte obsolet. Sie kann im Zeitalter umfassender medialer Durchdringung weltweiter Entwicklungen weniger denn je Gültigkeit beanspruchen. Ganz im Gegenteil bedient auch die türkische Führung gezielt die Klaviatur der Deutungsmacht, um ihren diktatorischen Ambitionen zur Durchsetzung zu verhelfen.

Wenn Ministerpräsident und AKP-Chef Binali Yildirim nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu auf einem Flug nach Moskau nähere Einlassungen dazu macht, wie das angestrebte Präsidialsystem konfiguriert werden soll, ist dies natürlich weder ein Fauxpas, noch eine unbesonnene Offenlegung klandestiner Pläne. Es handelt sich vielmehr um eine gezielt lancierte Demonstration der Zugriffsgewalt, die nichts zur Diskussion stellt, sondern im Vorgriff die Folgeschritte konzentrierter Willkür der Staatsführung nicht so sehr ankündigt, als vielmehr verfügt.

Der Ausnahmezustand soll zum Normalfall werden, stattet das geplante Präsidialsystem Erdogan doch dauerhaft mit weitreichenden Machtbefugnissen aus. Er soll wie schon seit dem Putschversuch vom Juli auch künftig Gesetzesdekrete erlassen und überdies den Entwurf für den Haushalt der Regierung einbringen dürfen. Andere Gesetzesentwürfe könnten demnach weiterhin aus dem Parlament kommen, doch werde die genaue Aufgabenteilung zwischen Präsident und Parlament erst im Entwurf für die Verfassungsänderung dargelegt. Außerdem solle der Präsident künftig einer Partei angehören dürfen, während die Verfassung dem Staatschef bislang parteipolitische Neutralität vorschreibt. [1] Unbestätigten Berichten zufolge soll der Posten des Ministerpräsidenten komplett wegfallen und der Präsident künftig von ein oder zwei Stellvertretern unterstützt werden.

Wie eilig es die AKP hat, die Okkupation von Staat und Gesellschaft zu komplettieren, unterstreicht die Ankündigung Yildirims schon vor seiner Abreise, daß der Entwurf für die Verfassungsänderung noch in dieser Woche ins Parlament eingebracht werde. Die Machtergreifung folgt der Dramaturgie einer ungebrochenen Schrittfolge repressiver Verschärfung, die das Moment inszenierter oder instrumentalisierter Kulminationspunkte wie des Putschversuchs nie auslaufen läßt, sondern das Schwungrad unablässig weiterdreht. Auf diese Weise wird die Opposition im eigenen Land gespalten und zertrümmert, ehe sie sich formieren kann, und die Kritik aus dem Ausland in den Rang bloßen Nachvollzugs verwiesen.

Wenngleich die AKP im Parlament auf die Stimmen der Nationalisten von der kleinsten Oppositionspartei MHP angewiesen ist, um ein Referendum über das Präsidialsystem anzuschieben, sieht der Ministerpräsident darin kein Problem. Die Arbeit an dem Gesetzestext sei abgeschlossen, die MHP stimme dem Vorschlag weitgehend zu. Die islamisch-konservative AKP und die ultranationalistische MHP haben gemeinsam 356 Stimmen im Parlament. Eine 60-Prozent-Mehrheit von 330 Stimmen ist für ein Referendum erforderlich, mit einer Zweidrittelmehrheit (367 Sitze) wäre eine Verfassungsänderung auch ohne Referendum möglich. Yildirim und Erdogan haben jedoch bislang angekündigt, in jedem Fall das Volk abstimmen zu lassen. [2]

Der Ausnahmezustand gilt derzeit bis Mitte Januar, kann aber weiter verlängert werden. Ob es im Sommer tatsächlich zur Volksabstimmung kommt, dürfte entscheidend davon abhängen, wann sich die AKP einer Zustimmung sicher sein kann. Wie sie argumentiert, brauche die Türkei ein starkes Präsidialsystem, um fragile Koalitionsregierungen zu vermeiden, die die Entwicklung des Landes in der Vergangenheit gebremst hätten. Daß damit ein autoritäres System mit massiver Einschränkung oder Aufhebung der demokratischen Rechten und Freiheiten verbunden ist, steht außer Frage.

Um jenen Teil möglicher Gegnerschaft auszuschalten, der dagegen zu Felde ziehen könnte, treibt das Regime die Verhaftungswelle voran. Jüngstes bekannt gewordenes Opfer ist der wichtigste Berater von Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, der in Ankara im Zuge der Ermittlungen gegen die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen festgenommen wurde. Der Informatiker Fatih Gürsul, der dem Vorsitzenden der CHP in den Bereichen Wissenschaft, Technologie und Kommunikation als Berater zur Seite stand, war bereits im August von seinem Dozentenposten an der Istanbul-Universität suspendiert worden. Laut Anadolu ist zudem gegen 14 von 30 zuvor festgenommenen Akademikern der Istanbuler Yildiz-Universität Haftbefehl erlassen worden.

Seit dem gescheiterten Militärputsch am 15. Juli sind Tausende Militärs festgenommen wie auch Richter und Staatsanwälte abgesetzt worden. Das Bildungsministerium suspendierte landesweit über 15.000 Staatsbedienstete aus seinem Verantwortungsbereich, selbst im Geheimdienst MIT wurden 100 Mitarbeiter entlassen. Hinzu kamen Suspendierungen im Amt des Ministerpräsidenten und in der Religionsbehörde Diyanet. Bald belief sich die Zahl aus dem öffentlichen Dienst suspendierter Personen auf mehr als 50.000.

Unter dem Ausnahmezustand regiert Erdogan weitgehend per Dekret, wobei Dekrete Gesetzeskraft haben, während sie das Parlament nur nachträglich bestätigen muß. Die Behörden können Ausgangssperren verhängen, Versammlungen untersagen und die Berichterstattung der Medien kontrollieren oder verbieten. Rund 150 Medien wie Nachrichtenagenturen, Fernsehsender, Radiostationen und Zeitungen wurden geschlossen, zahlreiche Mitarbeiter verhaftet. Festgenommen wurden auch Gültan Kisanak, Bürgermeisterin der südosttürkischen Kurdenmetropole Diyarbakir, und ihr Stellvertreter Firat Anli. Kisanak ist Mitglied der HDP und zählt zu den einflußreichsten kurdischen Politikerinnen im Land. Bereits in den vorangegangenen Wochen waren in mehr als zwei Dutzend kurdischen Gemeinden die Bürgermeister durch Zwangsverwalter ersetzt worden.

Auf einer Großveranstaltung in Istanbul mit mehreren Millionen Teilnehmern stellte Erdogan seinen Anhängern die Wiedereinführung der Todesstrafe in Aussicht. "Wenn es (das Volk) so eine Entscheidung trifft, dann, glaube ich, werden die politischen Parteien sich dieser Entscheidung fügen", sagte Erdogan. "So eine Entscheidung vom Parlament würde ich ratifizieren." Nicht lange darauf erklärte der Präsident, schon bald werde die Regierung einen Gesetzentwurf zur Wiedereinführung der Todesstrafe ins Parlament einbringen. "Ich glaube, dass das Parlament zustimmen wird, und wenn mir das Gesetz vorgelegt wird, werde ich es unterschreiben."

Die Behörden gingen auch gegen die wichtigste verbliebene Oppositionszeitung "Cumhuriyet" vor, der Chefredakteur Murat Sabuncu sowie zwölf weitere Mitarbeiter des Blattes werden festgenommen. Die Sicherheitskräfte nahmen auch die Vorsitzenden der pro-kurdischen Partei HDP, Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag, sowie acht weitere HDP-Abgeordnete fest. Bereits im Mai war die Immunität einer Mehrheit der 59 HDP-Abgeordneten im Parlament aufgehoben worden. An den Hochschulen wurden mehr als 900 Mitarbeiter entlassen, zugleich insgesamt 375 Vereine geschlossen, darunter Menschenrechtsgruppen. [3]

Wie diese keineswegs vollständige Zusammenschau zeigt, schaltet das Regime mit einer Welle von Verhaftungen, Entlassungen und Verboten Zug um Zug jegliche potentiellen Gegner in maßgeblichen Sphären der Gesellschaft aus. Die AKP-Regierung bedient sich dabei zweier Linien der Bezichtigung, indem sie die PKK unter das Terrorverdikt stellt und Anhänger der Gülen-Bewegung als Putschisten diskreditiert. Wer immer ihr im Weg steht, wird willkürlich einer der beiden Organisationen zugeordnet. Auch diese Feindbildproduktion zur Rechtfertigung eigener Zwangsmaßnahmen folgt dem Kanon repressiver Staatlichkeit, wobei Erdogan nicht zu Unrecht auf entsprechende Strategien der westlichen Führungsmächte verweist und im selben Boot mit der Bundesregierung sitzt, was die Verfolgung linker türkischer und kurdischer Organisationen betrifft.

Die geballte Vernichtungsgewalt des Regimes richtet sich insbesondere gegen die Kurdinnen und Kurden, die Erdogan physisch vernichten, verelenden und vertreiben will, bis ihr Widerstand gebrochen, ihr Zusammenleben zerstört und ihre kulturelle Identität ausgelöscht ist. Anders läßt sich die Kriegführung Ankaras im Südwesten des Landes wie auch in Rojava nicht einstufen, die von den deutschen Leitmedien lange ausgeblendet oder verharmlost wurde. Endlich nimmt sich auch Amnesty International der dort verübten Greueltaten an und wirft den Behörden die Vertreibung von etwa einer halben Million Menschen in den türkischen Kurdengebieten vor. Das komme einer "kollektiven Bestrafung" gleich, die laut humanitärem Völkerrecht verboten ist. Der aktuelle Bericht "Vertrieben und enteignet" konzentriert sich auf das historischen Viertel Sur in der Metropole Diyarbakir, aus dem seit Juli 2015 rund 24.000 Menschen vertrieben wurden. Grund seien vor allem die Ausgangssperren, die damals immer wieder verhängt wurden. Die Anwohner litten unter Lebensmittel- und Wasserknappheit und fürchteten wegen der anhaltenden Kämpfe um ihr Leben.

Die Geflohenen seien bei Verwandten oder in angemieteten Wohnungen untergekommen, doch hätten viele ihre Arbeit verloren und Schwierigkeiten, eine Bleibe zu finden, die sie sich leisten könnten. Die Situation werde verschärft, weil viele regierungskritische Vereine, die sich zuvor um Bedürftige gekümmert hatten, per Notstandsdekret geschlossen wurden. Kurdische Hausbesitzer könnten nicht in ihre Häuser zurückkehren, weil diese noch im Sperrgebiet lägen oder ohnehin zerstört seien. Zudem hätten die Behörden die meisten Grundstücke in Sur zwangsenteignet. Nun müßten sie dafür sorgen, daß die Vertriebenen "sicher und mit Würde" in ihre Häuser zurückkehren könnten oder sich freiwillig in anderen Landesteilen niederließen, fordert Amnesty. [4]

Wenngleich die so zum Ausdruck gebrachte Kritik am "brutalen Vorgehen der Behörden" den Vernichtungs- und Zerstörungsauftrag der türkischen Sicherheitskräfte eher verschleiert als offenlegt und die Argumentation mit dem humanitären Völkerrecht angesichts der offenen Kriegserklärung Erdogans an die Kurdinnen und Kurden gezielt zahnlos anmutet, können doch wenigstens die führenden deutschen Medien nicht länger umhin, auch die massivste Repressionswelle des AKP-Regimes zu thematisieren.


Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-recep-tayyip-erdogan-will-per-dekret-regieren-a-1124605.html

[2] https://www.welt.de/politik/ausland/article160016478/Erdogan-Partei-plant-den-permanenten-Ausnahmezustand.html

[3] http://www.shz.de/deutschland-welt/politik/geplantes-praesidialsystem-erdogan-soll-kuenftig-per-dekret-regieren-koennen-id15529151.html

[4] http://www.tagesspiegel.de/politik/kurdenkonflikt-amnesty-wirft-tuerkei-vertreibung-hunderttausender-vor/14939024.html

6. Dezember 2016


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