Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


REPRESSION/1543: Erdogans Geisterbahnfahrt ruft Dämonen auf den Plan (SB)



In der Türkei ist das innen- wie außenpolitisch blutige Jahr 2016 mit einem schweren Anschlag in Istanbul zu Ende gegangen. Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte zuvor in seiner Neujahrsbotschaft ein Szenario umfassender Bedrohung des Landes entworfen und dabei auf finstere Mächte abgehoben, gegen die die türkische Republik 93 Jahre nach ihrer Gründung einen "neuen Unabhängigkeitskrieg" führen müsse:

"Die nationale Einheit, territoriale Integrität, Institutionen, Wirtschaft, Außenpolitik, kurz alle unsere Elemente, die uns als Staat aufrecht erhalten, werden scharf angegriffen." Terrororganisationen seien dabei "nur die sichtbaren Gesichter und Werkzeuge dieses Kampfes". Man kämpfe aber "im Wesentlichen gegen die Mächte hinter diesen Organisationen", ließ Erdogan offen, wen er dabei im Auge hatte. Der Putschversuch sei "der abscheulichste Terrorangriff" in der Geschichte der Republik gewesen, doch der Türkei sei es gelungen, "aus dieser Katastrophe eine neue Auferstehung und einen Neuanfang zu machen", rühmte er seine eigene Führung. [1]

Der Staatschef schwor die Bevölkerung auf einen langen Kampf ein und kündigte eine Eskalation der Repressionswelle an: Neben der "Säuberung" staatlicher Institutionen würden "diese Krebszellen" auf jeder gesellschaftlichen Ebene ausgemerzt. Jüngst hatte er eine Massenkampagne staatlich sanktionierter Pogrome ausgerufen, um "Terroristen" aller Art aufzuspüren und dingfest zu machen. Zeitgleich nahm Erdogan leichterdings die nächste Etappe seiner Machtergreifung, da die zuständige Kommission des Parlaments in Ankara den Vorschlag zur Einführung eines Präsidialsystems annahm und damit den Weg zur Abstimmung im Parlament ebnete.

Erdogan dürfte nicht ohne Grund auf mystifizierende Weise offengelassen haben, wer die ominösen Mächte hinter den "Terrororganisationen" seien. Die Geister, die er gerufen oder instrumentalisiert hat, sind so vielfältig und kaum noch zügelbar wie die Feindbilder des Machthabers und seine Haßtiraden. Von der seinerzeit ebenfalls repressiv durchgesetzten Doktrin des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk "Frieden daheim - Frieden in der Welt" ist der türkische Staatschef derzeit weiter entfernt denn je im Zuge seines Aufstiegs zum Despoten des unbegrenzten Ausnahmezustands.

Die Menschen in der Türkei fürchten sich vor Anschlägen, willkürlichen Festnahmen und Entlassungen, seit dem 21. Juli herrscht der Präsident per Dekret. Wer ihn kritisiert, riskiert seinen Job, seine Freiheit, seine Unversehrtheit. Den Umsturzversuch Mitte Juli hat er noch in der Putschnacht als Geschenk Gottes bezeichnet, jeder Widerstand gegen seine Machtambitionen wird gebrochen. Politische Gegner werden als Terroristen, Separatisten oder Verräter gebrandmarkt, die linksliberale prokurdische HDP wurde diskreditiert und kriminalisiert. Die Kurdengebiete im Südwesten des Landes werden mit Krieg überzogen, die türkische Armee mischt im Irak und vor allem in Syrien mit. [2]

Von einem einheitlichen Muster der verheerenden Anschläge und deren mutmaßlichen Urhebern kann längst nicht mehr die Rede sein. Seit mehr als einem Jahr wird die Türkei immer wieder von Anschlägen erschüttert, für die vor allem die Dschihadistenmiliz "Islamischer Staat" (IS) oder militante Kurden verantwortlich gemacht wurden. So wurden im Juni bei einem Selbstmordattentat mutmaßlicher IS-Mitglieder auf dem Istanbuler Atatürk-Flughafen 47 Menschen getötet, im August riß ein Selbstmordattentäter bei einer kurdischen Hochzeitsfeier in Gaziantep fast 60 Menschen mit in den Tod. Am 10. Dezember wurden bei einem Doppelanschlag auf Polizisten nach einem Spiel des Fußballvereins Besiktas Istanbul 44 Menschen getötet. Zu dieser Tat bekannten sich die Freiheitsfalken Kurdistans, eine Abspaltung der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans PKK, die auf eigene Faust handelt. Auch für einen Anschlag am 17. Dezember, bei dem 14 Soldaten getötet und 56 weitere Menschen verletzt wurden, übernahmen die Freiheitsfalken die Verantwortung. [3]

Von der grundsätzlichen Ungewißheit abgesehen, was die Ausführenden der Anschläge und deren mögliche Unterwanderung oder Steuerung durch Geheimdienste betrifft, scheint die aufgeheizte Gemengelage aus repressiver Staatlichkeit, islamistischer Durchdringung der Gesellschaft und nationalistischer Aggression gegen Feindbilder zudem neue und andere Täter auf den Plan zu rufen. Am 19. Dezember wurde der russische Botschafter in der Türkei, Andrej Karlow, von einem türkischen Polizisten erschossen, und zu den noch ungeklärten Motiven des Anschlags in der Silvesternacht auf den von Filmstars und Fußballprofis ebenso wie von Touristen und westlich orientierten Unternehmern frequentierten "Reina Club" könnte der Umstand zählen, daß dessen Besitzer sowie ein Großteil der Mitarbeiter der in der Türkei diskriminierten und von Islamisten verfolgten alevitischen Glaubensgemeinschaft angehören. In den zurückliegenden Wochen hatten islamistische und nationalistische Gruppierungen eine Haßkampagne gegen die als unislamisch diskreditierten Weihnachts- und Silvesterfeiern losgetreten und in aller Offenheit "letzte Warnungen" ausgesprochen. [4]

Die grausame Geisterbahnfahrt, die Erdogan dem Land verordnet hat, um seine Führerschaft in einem starken Staat mit hegemonialen Ambitionen in der gesamten Region zu etablieren, ruft zwangsläufig Dämonen auf den Plan, die denen der AKP und regierungstreuen Kräfte in der Gesellschaft in nichts nachstehen. So wenig die Gründe militanter Opposition über ein und denselben "Terror"-Kamm zu scheren sind, so deutlich zeichnet sich doch eine Eskalation des Gewaltabtausches ab, die den von Recep Tayyip Erdogan in Aussicht gestellten sicheren Wohlfahrtsstaat aufs äußerste konterkariert.


Fußnoten:

[1] http://www.dw.com/de/präsident-erdogan-wähnt-die-türkei-im-krieg-gegen-dunkle-mächte/a-36963931

[2] http://www.deutschlandfunk.de/tuerkei-zwischen-gewalt-und-autoritarismus.720.de.html?

[3] http://www.dw.com/de/39-tote-bei-angriff-auf-nachtclub-in-istanbul/a-36624550

[4] https://www.jungewelt.de/2017/01-02/075.php

1. Januar 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang