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REPRESSION/1710: Polizeigewalt in Frankreich - Schwerverletzte und Todesopfer ... (SB)



Die Proteste in den USA haben ein Schlaglicht auf die Ereignisse in Frankreich geworfen. Wer heute für Georges Floyd kämpft, kämpft auch für Adama Traoré.
Assa Traoré (Ältere Schwester und Gründerin des Komitees "Wahrheit für Adama") [1]

Auch in Frankreich gehen dieser Tage zahlreiche Menschen auf die Straße, um gegen Polizeigewalt zu protestieren. Unterstützt werden sie von bekannten Gruppen, die sich seit längerem an dieser Front engagieren, wie dem Komitee Adama. Dieses thematisiert seit fast vier Jahren den Tod des 24jährigen Adama Traoré, der an seinem Geburtstag, dem 19. Juli 2016, in einem Fahrzeug der französischen Gendarmerie in der Pariser Vorstadt Persan-Beaumont zu Tode kam - mutmaßlich erstickt von mehreren auf ihm sitzenden Beamten, in Anwendung einer Technik zur Ruhigstellung, die in Nachbarländern wie Belgien und der Schweiz ausdrücklich verboten ist. Kürzlich kam ein weiteres gerichtlich angeordnetes Gutachten in diesem Fall zum selben Ergebnis wie das ursprüngliche: Die Polizeimethode sei nicht schuld am Tod Traorés, der wegen eines Herzfehlers nach einem Lauf von 400 Metern in Atemnot geraten und dann gestorben sei. Die Familie des sportlichen jungen Mannes bestreitet dies. Ein von ihr selbst finanziertes und am 2. Juni vorgelegtes Gutachten bestätigt klar den Erstickungstod.

Noch zwei weitere Fälle von exzessiver Polizeigewalt haben seit Jahresanfang in Frankreich für Empörung gesorgt. Ein 42jähriger Lieferfahrer war im Januar nach einer Polizeikontrolle am Pariser Eiffelturm erstickt. Die Polizisten drückten den Familienvater bäuchlings auf den Boden, er erlitt dadurch einen Kehlkopfbruch. In der südfranzösischen Stadt Béziers starb im April ein 33jähriger, nachdem er mit dem Gesicht nach unten fixiert worden war.

Das Komitee "Gerechtigkeit für Adama" hatte dazu aufgerufen, am 2. Juni zum Pariser Justizpalast zu kommen, wo das Gegengutachten an die zuständigen Justizorgane übergeben werde. Die Polizei war an Ort und Stelle, wurde aber durch Tausende trotz des Corona-Verbots von allen Seiten herbeiströmende Menschen schier überrannt. Selbst nach polizeilichen Angaben kamen mehr als 20.000 Menschen zusammen. Rund ein Drittel der Beteiligten waren schwarz, viele junge Menschen waren in der Menge zu sehen. Seither hat sich in der französischen Öffentlichkeit die Vorstellung durchgesetzt: Der französische George Floyd ist Adama Traoré.

In Frankreich sind derzeit öffentliche Versammlungen mit mehr als zehn Personen grundsätzlich verboten, und dies voraussichtlich bis mindestens zum 10. Juli, an dem die derzeitige Frist zur Anwendung des "Gesetzes zum gesundheitlichen Ausnahmezustand" ausläuft. Dennoch war dies nach einer Demonstration von gut 5000 Menschen am 30. Mai für die Rechte von Einwanderern ohne Aufenthaltsstatus bereits der zweite Fall, in dem das geltende Demonstrationsverbot in großem Stil mißachtet wurde.

Die Regierung äußerte sich sehr reserviert zu diesem Thema. Innenminister Christoph Castaner bestritt rassistische Tendenzen in der französischen Polizei, Präsident Emmanuel Macron kündigte eine "Verbesserung ihrer Ausbildung" an. Regierungssprecherin Sibeth Ndiaye bemühte sich in einer Pressekonferenz darzulegen, warum die Lage der Schwarzen in den USA und in Frankreich "nicht vergleichbar" sei. "Ich glaube nicht, dass man sagen kann, Frankreich sei ein rassistisches Land", behauptete die aus Senegal stammende Macron-Vertraute. Assa Traoré konterte umgehend, die Lage sei tatsächlich ungleich, nämlich in Frankreich sogar noch schlimmer: In den USA sei der Polizist immerhin hinter Gittern, doch im Fall Traoré habe das Innenministerium in Paris den drei beteiligten Gendarmen sogar seinen Dank ausgesprochen.

Eine Sprecherin der Polizeigewerkschaft SGP, Linda Kebbab, trat dieser Darstellung vehement entgegen. Der Fall George Floyds habe mit der Traoré-Affäre "absolut nichts zu tun, weder historisch, ursächlich noch technisch", sagte die Polizistin. Die in Minneapolis angewendete Technik "Knie auf Hals" sei in Frankreich verboten; die französische Polizei habe sie in aller Form verurteilt. Generell warf die Polizeisprecherin dem Traoré-Komitee vor, einen "rassisch orientierten Diskurs" aus den USA nach Frankreich zu bringen. [2]

Angesichts ihrer Geschichte und Gegenwart hat die französische Polizei gute Gründe, einen Diskurs in der Öffentlichkeit über ihren strukturellen Rassismus und ihr repressives Vorgehen zu fürchten. Dem muß natürlich vorausgeschickt werden, daß Polizei grundsätzlich im Dienst des staatlichen Gewaltmonopols die herrschende Ordnung durchzusetzen hat, die Anwendung von Zwangsmitteln also ihr Kerngeschäft ist. Das tritt eben dort besonders deutlich hervor, wo Konflikte der Klassengesellschaft gären oder ausbrechen. Die Existenz dieses Grundverhältnisses stellt nach dem Tod George Floyds nicht nur die französische, sondern auch die deutsche Polizei in Abrede, die ihrerseits behauptet, die Situation in den USA ließe sich überhaupt nicht mit der hiesigen vergleichen, weshalb der Vorwurf eines strukturellen oder auch nur latenten Rassismus die gesamte Polizei unter Generalverdacht stelle. Diese empörende Bezichtigung müsse entschieden zurückgewiesen werden. Darin wird sie von weiten Teilen der Politik unterstützt, für die Polizei zur Sicherheit der herrschenden Verhältnisse unverzichtbar ist und daher personell, materiell und rechtlich aufgerüstet wie auch in der öffentlichen Debatte verteidigt wird.

Wenn angesichts anhaltender Proteste in zahlreichen Ländern eingeräumt wird, daß es im Polizeidienst schwarze Schafe gebe, die es zu sanktionieren gelte, ist das keine späte Einsicht. Vielmehr handelt es sich um den Versuch, die Vorwürfe gegen sich zu kehren und einzubinden, indem vorgeblich Abhilfe geschaffen wird. Sind die bösen Cops aussortiert, bleiben die guten übrig, was jeden Widerstand gegen ihr Handeln zwangsläufig diskreditiert und kriminalisiert, wie es in der Bundesrepublik gesetzlich ja bereits festgeschrieben ist. Dies vorausgesetzt, lassen sich gewisse landesspezifische Charakteristika der jeweiligen Polizeien herausarbeiten, wobei sich abzeichnet, daß die bestehenden Unterschiede in zunehmendem Maße international nivelliert werden - und dies zwangsläufig auf dem höchsten Niveau repressiver Möglichkeiten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es auch in Frankreich zu einer gewissen personellen Kontinuität faschistischer Strukturen, wenngleich erheblich gebrochener als in Westdeutschland oder teilweise auch Italien, da viele Résistancekämpfer nach 1944 in den Staatsdienst eintraten und "belastete" Elemente ausgetauscht wurden. Den nahtlosen Übergang verkörperte insbesondere der vormalige Nazikollaborateur Maurice Papon, der in den 1960er Jahren Pariser Polizeipräfekt war und erst 1998 wegen seiner aktiven Rolle bei Judendeportationen aus dem besetzten Frankreich in den Jahren 1942 bis 44 als "Verbrecher gegen die Menschheit" verurteilt wurde. Die gesellschaftliche Nachwirkung der Résistance verblaßte angesichts einer innenpolitischen Rückwirkung der Kolonialkriege in Indochina (1946 bis 1954) und Algerien (1954 bis 1962), die einen reaktionären Nationalismus beförderten und die Rehabilitierung repressionserfahrenen Personals begünstigten.

Am frühen Abend des 17. Oktober 1961 mobilisierte die Nationale Befreiungsfront (FLN), ein Spektrum unterschiedlicher Flügel von marxistischen bis präislamistischen Kräften, das für die Unabhängigkeit Algeriens kämpfte, in Paris 20.000 bis 30.000 Anhänger zu einer Demonstration. Aus staatlicher Sicht stellte dies einen dreifachen Angriff dar, sah man die Hauptstadt doch durch den Kommunismus, den Islam und die "Dritte Welt" gleichzeitig umzingelt. Zur kolonialen Gewalt gesellte sich die Staatsräson, die Ordnung aufrechtzuerhalten und den "inneren Feind" zu bezwingen, da der FLN wie andere nationale Befreiungsbewegungen dieser Ära als "fünfte Kolonne" im Kampf der Systeme aufgefaßt und bekämpft wurde. Aus der Gemengelage von Kolonialrassismus und unbedingtem staatlichen Kontrollanspruch erwuchs eine exzessive polizeiliche Gewalt.

An diesem Abend und in der darauffolgenden Nacht töteten Polizeieinheiten, die von dem Polizeipräfekten Maurice Papon befehligt wurden, um die 300 Algerier mitten in Paris: Sie wurden totgeschlagen, von Brücken geworfen, in der Seine ertränkt. Über diesen Massenmord wurde nach dem Algerienkrieg, der am 5. Juli 1962 mit der Unabhängigkeit der früheren Kolonie endete, ein Mantel des Schweigens gebreitet. Ein erster Dokumentarfilm darüber wurde in den siebziger Jahren noch mit einem Verbot belegt, und erst ab den 1990er Jahren begannen NGOs, allmählich Licht in das Dunkel um diese Affäre zu bringen. Rund um den fünfzigsten Jahrestag des Massakers im Oktober 2011 brach das Schweigen. Zeitungen erwähnten den Jahrestag, Politiker etablierter Parteien bekannten sich erstmals zur historischen Verantwortung des französischen Staates, und Tausende Menschen demonstrierten bei einem Gedenkmarsch.

Die postkoloniale Struktur von Staat und Gesellschaft, welche die Ideologie rassischer und kulturellen Überlegenheit einschloß, endete damit nicht. Und ebensowenig verzichtete die Staatsgewalt auch in der Folge auf die stets präsente Option, die öffentliche Ordnung mit repressiven Mitteln aufrechtzuerhalten, die um so massiver ausfielen, je heftiger die Widersprüche der Klassengesellschaft in Erscheinung traten. Frankreich weist eine besonders starke räumliche Trennung unterschiedlicher sozialer und "ethnischer" Gruppen auf, wobei eingewanderte Menschen mehrheitlich an den Rändern der urbanen Ballungsräume in den Banlieues leben. Absolventen der Polizeischulen leisten ihre ersten Berufsjahre an diesen Orten ab, die sie als Zonen feindlichen Gebietes wahrnehmen, aus denen sie mit rassistischer Stereotypenbildung hervorgehen.

Zudem hat sich die Polizeidoktrin in den letzten Jahren brutalisiert. Im Herbst 2015 wurde das Land in Folge der dschihadistischen Attentate von Paris und der Vorstadt Saint-Denis in den Ausnahmezustand versetzt, was der Polizei das Feld eröffnete, repressiv gegen jeglichen Protest vorzugehen. Das traf die Demonstration am 29. November zur Eröffnung der internationalen Konferenz COP-21 ebenso wie die Gewerkschafts- und Jugenddemonstrationen im Frühjahr 2016 gegen die Arbeitsrechtsreform, bei denen es zu zahlreichen Verletzten und Festnahmen kam. Die Gelbwestenbewegung wurde 2018 und 2019 noch heftiger angegriffen, neben Toten zeugten ausgeschossene Augen und abgerissene Händen von den berüchtigten Gasgranaten und Gummigeschossen. Der anwachsende Neofaschismus griff auch in Kreisen der Polizei um sich. So stimmten seit den Regionalparlamentswahlen 2015 bei mehreren Wahlgängen über fünfzig Prozent der an ihnen teilnehmenden Polizeibediensteten für den rechtsextremen Front National (FN), der seit dem 1. Juni 2018 den Namen Rassemblement National (RN) trägt. [3]

Der Tod George Floyds und die zeitgleiche Veröffentlichung des offiziellen Justizgutachtens zu Adama Traoré führten in Frankreich zu einer Situation, die Le Monde als "sozialer Cocktail mit einem hochgradig explosiven Potential" beschrieb. Innenminister Castaner, der bis dahin stets als Hardliner der Polizei den Rücken gestärkt hatte, erklärte nun, künftig solle der "Würgegriff" bei Festnahmen oder Kontrollen verboten sein. [4] Dies und seine Aussage, jeder "einwandfrei bewiesene Hauch eines Verdachts des Rassismus" könne zur Suspendierung eines Polizisten führen, rief heftigen Protest der Polizei auf den Plan. In zahlreichen Städten marschierten Polizisten vor den Präsidien auf und warfen demonstrativ Teile ihrer Ausrüstung auf den Boden. "Christophe Castaner hat das Vertrauen der Polizisten verloren", sagte der Generalsekretär der größten Polizeigewerkschaft, Yves Lefebvre. "Seit Montag betrachte ich Herrn Castaner als meinen Gegner." "Castaner stellt die Polizisten unter Generalverdacht", twitterte der Fraktionsvorsitzende der konservativen Partei im französischen Senat.

Castaner ruderte zurück und erklärte, der allergrößte Teil der Polizisten sei nicht rassistisch, und nach einem Treffen mit Gewerkschaftsvertretern der Polizei verkündeten diese, der Würgegriff solle offenbar doch nicht abgeschafft werden. "Herr Castaner hat eingesehen, dass er Fehler gemacht hat", erklärte Lefebvre.

Wer dunkelhäutig ist und in den Vorstädten der großen Städte lebt, muß jederzeit damit rechnen, von der Polizei angegangen zu werden. Junge Männer, die als schwarz, arabisch oder maghrebinisch wahrgenommen werden, kontrolliert die Polizei wesentlich häufiger als Weiße. Nach den Demonstrationen für Traoré veröffentlichte ein Onlinemedium eine Recherche über eine Facebook-Gruppe, in der Tausende Polizisten Mitglied waren und die Demo auf übelste Weise rassistisch kommentierten. Kurz darauf veröffentlichte die Seite eine weitere Recherche über eine zweite Facebook-Gruppe, in der Polizisten ebenfalls rassistische Nachrichten austauschten. [5]

Dennoch erklären französische Polizisten, die Äußerungen Castaners seien nur "der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt". Die Polizei werde regelmäßig angegriffen, beleidigt, sei Gewalt ausgesetzt. Die Polizisten verweisen auf die seit den islamistischen Anschlägen von 2015 herrschende Stimmung im Land, auf die zum Teil gewaltsamen Proteste der Gelbwesten und nun die strengen Maßnahmen gegen die Pandemie, die sie durchsetzen mußten. Wer die Staats- und Waffengewalt auf seiner Seite hat, wer die Toten und Schwerverletzten produziert, wer festgenommen, verurteilt und inhaftiert wird, erwähnten sie nicht.


Fußnoten:

[1] jungle.world/artikel/2020/24/george-floyd-und-adama-traore

[2] www.fr.de/politik/rassismus-frankreich-paris-nach-adama-traor-13786302.html

[3] www.heise.de/tp/features/Frankreich-Protest-gegen-Rassismus-und-Ungerechtigkeit-4782698.html

[4] www.heise.de/tp/features/Polizeigewalt-Franzoesischer-Innenminister-verbietet-Wuergegriff-4779026.html

[5] www.spiegel.de/politik/ausland/frankreich-warum-polizisten-ihre-handschellen-wegwerfen-a-dea85009-63f7-4b85-b631-f89eea1222f5

19. Juni 2020


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