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REPRESSION/1711: Erdogan - ein bevorzugtes Übel ... (SB)



Wenn die Europäische Union und der Europarat angesichts dieser Lage eine Normalisierung des Verhältnisses zur Türkei für möglich halten, drängt sich die Frage auf, ob für Europa Menschenrechte und Demokratie überhaupt noch eine Rolle spielen. (...) Wir erleben leider, dass Prinzipien wie Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen, allen voran dem Flüchtlingsthema, geopfert werden. In Europa gibt es Staaten, die diesen Prinzipien keinen großen Wert einräumen. Aber wenn gerade Deutschland hierbei eine andere Haltung einnehmen würde, würde das nicht folgenlos bleiben.
Mithat Sancar (Co-Vorsitzender der HDP) [1]

Die Achterbahnfahrt der deutsch-türkischen Beziehungen gleicht zwar einem schwindelerregenden Wechselspiel voller Höhen und Tiefen, verläßt aber nie die vorgeprägte Spur eines fest gefügten Verhältnisses der beiden Staaten. Gemäß deutscher Staatsräson und Regierungspolitik ist die Türkei nicht mehr und nicht weniger als ein privilegierter Juniorpartner. Einerseits soll sie niemals auf gleiche Augenhöhe rücken und wird deshalb auch keinesfalls in die EU aufgenommen, andererseits wird ihr überall dort, wo dies deutschen Interessen dient, eine bevorzugte Behandlung und Schützenhilfe zuteil. Ob bei Handelsbeziehungen und Investitionen, Rüstungsgeschäften und Flüchtlingsabwehr, Repression gegen Linke und Zusammenarbeit der Geheimdienste - unter dem Wellenschlag tagespolitischer Verwerfungen und verbalradikaler Gesten gedeiht der Pakt, ohne den der Machterhalt das Erdogan-Regimes schlichtweg nicht möglich wäre.

Beiderseits gibt die Sicherung staatlicher Herrschaft unter Fortschreibung des Kapitalverhältnisses wie auch der daraus resultierende imperialistische Übergriff die Ratio übereinstimmender Grundinteressen ungeachtet der jeweils spezifischen Regierungsweise vor. Die Eigentumsordnung als unantastbar vorauszusetzen, mithin Ausbeutung und Verfügung zu gewährleisten und gegen jegliches Aufbegehren kraft des Gewaltmonopols repressiv zu verteidigen, schmiedet die herrschende Klasse beider Länder fest zusammen. Ob die Türkei als säkulare Republik, Militärjunta oder autokratisch-islamistisches Regime firmiert, tangiert deutsche Regierungsdoktrin nur insofern, als das essentielle gesellschaftliche Machtgefüge um jeden Preis aufrechterhalten werden muß, wofür es bei Bedarf nachzuhelfen gilt.

Hinzu kommt in nationalstaatlicher Konkurrenz der unterschiedliche Entwicklungsstand der jeweiligen Produktivkräfte, was den hochentwickelten Industriestaat Deutschland als Führungsmacht der EU zu einem Schwergewicht im Verhältnis zum Schwellenland Türkei macht. Ginge es allen Ernstes darum, Erdogan am Unterdrücken, Einsperren, Foltern, Morden und Kriegführen zu hindern, wäre die Bundesrepublik wie kein anderes Land prädestiniert, ihm mit ökonomischen und anderen Druckmitteln den Hahn zuzudrehen. Dies gilt um so mehr, als die globale Verwertungskrise des Kapitals die türkische Wirtschaft noch weitaus stärker in Mitleidenschaft gezogen hat als die deutsche, so daß der Despot im Präsidentenpalast buchstäblich am Abgrund steht, nicht zuletzt gehalten von der helfenden Hand aus Berlin. Solange ihm diese nicht entzogen wird, ist sein baldiger Sturz keineswegs gewiß.

Wie sehr sich der brachiale Machtpolitiker dieser Abhängigkeit von Deutschland und der EU bewußt ist, zeigen seine aberwitzigen Kehrtwenden zwischen wüster Aggression und versöhnlichen Schwamm-drüber-Signalen. Wenngleich sein langjähriger Erfolg auch darauf beruht, nicht den geringsten Riß im Panzer der Stärke zu zeigen, um an der Heimatfront patriarchal-nationalistischen Stolz zu beschwören, versteht er sich doch an entscheidender Stelle darauf, das Blatt nicht zu überreizen. Während er den kurdischen Widerstand erbarmungslos auszulöschen und jegliche Opposition im eigenen Land brutal niederzuwerfen trachtet, die Gewaltenteilung zerschlägt und seine Macht bis in diktatorische Sphären emportreibt, seinen Feinden in blutrünstigen Drohungen offen Vernichtung ankündigt, kann er andererseits durchaus Kreide fressen, um übermächtigen Komplexen in Berlin und Brüssel Brücken zu bauen.

Er tanzt ihnen nicht auf der Nase herum und führt sie auch nicht hinters Licht, wie das hierzulande so gern kolportiert wird, um die eigene Beteiligung am türkischen Metzeln zu leugnen. Natürlich wissen Kanzleramt, Außenministerium und EU-Kommission, Geheimdienste und Wirtschaftsbosse nur allzu gut, was Erdogan treibt und sie infolge dessen an ihm haben. Wenn er sie zwischenzeitlich einmal nicht als Nazis beschimpft, sondern den roten Teppich gepflegter Diplomatie ausrollt, so ausschließlich zu dem Zweck, ihren Verzicht auf Sanktionen gängig zu machen, wie er insbesondere von deutscher Seite allenthalben durchgesetzt wird. Nähme man Einfluß, würde dies den Gesprächsfaden mit der türkischen Regierung endgültig kappen, so daß man keinen Einfluß mehr nehmen könnte, lautet der absurde Zirkelschluß, dem Erdogan seinerseits Vorschub leistet, indem er sich nicht zu fein ist, wahlweise konziliante Töne anzuschlagen.

Die EU-Staaten werden auf ihrer bevorstehenden Ratssitzung erneut über Sanktionen gegen die Türkei diskutieren, aber vor allem auf deutschen Druck hin sicher keine Strafmaßnahmen beschließen. Ob im Konflikt um die Kaukasusregion Bergkarabach oder die türkische Rolle im libyschen Bürgerkrieg - stets stellte sich die Bundesregierung schützend vor die Türkei und widersetzte sich den insbesondere von Frankreich und Österreich betriebenen Bemühungen um eine härtere Haltung gegenüber Ankara. Das dortige Regime weigert sich weiterhin, die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu befolgen und den ehemaligen Vorsitzenden der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtas, sowie den Intellektuellen und Mäzen Osman Kavala freizulassen. Seit über vier Jahren sitzt Demirtas in Haft, Kavala seit mehr als drei, und zuletzt wurde unter vielen anderen auch der prominente Menschenrechtspolitiker Ömer Faruk Gergerlioglu inhaftiert.

Als Schmierstoff, die Verhinderung jeglicher Zwangsmittel seitens der EU zu ölen, hat Erdogan einen Menschenrechtsplan präsentiert und die Ausarbeitung einer neuen Verfassung angekündigt. Er wirft einmal mehr die Nebelmaschine an, um vordergründig zu verschleiern, daß man ihm ernsthafte Sorge um Demokratie und Rechtsstaat am allerwenigsten attestieren kann. Laut der US-Organisation Freedom House hat in den vergangenen zehn Jahren außer Mali kein Staat der Welt in dieser Hinsicht solche Rückschritte gemacht wie die Türkei. Der Plan mit seinen elf Grundprinzipien, neun Zielsetzungen, 50 Meilensteinen und 393 Handlungen dürfte daran kaum etwas ändern, werden doch alle gravierenden Defizite ausgespart oder nicht konkretisiert. Das pompöse Vorhaben soll offenbar das stark belastete Verhältnis zum Westen aufhellen und positive Signale an Brüssel senden. [2]

Die Lebensbedingungen wachsender Bevölkerungsteile in der Türkei sind katastrophal. Zwar ist der dramatische Absturz der Lira vorerst gestoppt, doch die Inflationsrate auf rund 15 Prozent gestiegen. Im Zuge der Corona-Pandemie und des Währungsverfalls stieg die Rate der Firmenpleiten um 43 Prozent, Schätzungen zufolge liegt die Arbeitslosenquote bei knapp 20 Prozent. Laut einer Umfrage der Gewerkschaft DISK sind sieben von zehn Menschen im Land verschuldet, 40 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Normalverdiener, die mit dem Mindestlohn von umgerechnet 330 Euro netto im Monat auskommen müssen, können sich selbst die Grundnahrungsmittel kaum noch leisten, in Istanbul stehen die Menschen Schlange für subventioniertes Brot. Nach einer neuen Umfrage würde fast jeder Zweite lieber im Ausland leben, selbst jeder dritte Wähler der AKP will die Türkei verlassen. [3]

Erdogans Antworten sind noch mehr Patriotismus und Krieg, Repression und aberwitzige Propagandaprojekte wie ein türkisches Raumfahrtprogramm. In Umfragen fallen AKP und faschistische MHP weit hinter die Opposition zurück, die das Regime deswegen rigoros zu schwächen und spalten versucht. Rund 3700 HDP-Mitglieder sitzen in Haft, gegen Tausende weitere laufen Verfahren. Ihre gewählten Bürgermeister wurden abgesetzt, viele von ihnen inhaftiert, ein Verbot der Partei ist angedroht. Die kemalistische CHP zeigt sich in Fragen der Außenpolitik zerstritten. Mit der Keule des "Terrorismus"-Verdikts prügelt die Staatsführung auf Proteste und politische Gegner ein, um 2023 zum hundertjährigen Bestehen der Republik zwar nicht wirklich den Mond zu erreichen, aber Erdogans Wiederwahl zu erzwingen, was auch eine neue Verfassung sicherstellen soll. Ein Zurück gibt es für den Machthaber und seine Anhängerschaft längst nicht mehr, liefen sie in diesem Falle doch Gefahr, für ihre Greueltaten zur Rechenschaft gezogen zu werden. Wenn Mevlüt Cavusoglu seinen Amtskollegen Heiko Maas bei dessen Besuch in Ankara herzt, der daraufhin von Entspannung der Meinungsverschiedenheiten frohlockt, könnte die Botschaft an Erdogan nicht deutlicher sein: Weiter so unter deutscher Schirmherrschaft samt Waffen, Warenverkehr und Investitionen.


Fußnoten:

[1] www.welt.de/politik/ausland/article226929965/Erdogan-Zuckerbrot-fuer-Europa-Peitsche-fuer-die-Opposition.html

[2] www.nzz.ch/international/tuerkei-warum-erdogan-eine-neue-verfassung-will-ld.1605520

[3] www.dw.com/de/wirtschaftskrise-in-der-türkei-kein-ausweg-in-sicht/a-56551084

17. März 2021


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