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KULTUR/0821: "Informationsoverkill" ... zweckdienliche Chiffre bourgeoiser Meinungsführerschaft (SB)



Das Lamento des FAZ-Mitherausgebers Frank Schirrmacher über die angeblich von den neuen Kommunikationstechniken ausgehende Überforderung ist ein Dokument bourgeoisen Unwohlseins, das vor allem der Angst vor dem Verlust der Standesprivilegien des prominenten Publizisten geschuldet ist. Seine zentrale These, daß die Informationsvielfalt elektronischer Medien dazu führen könnte, den Menschen die Kontrolle über ihr eigenes Denken zu nehmen, geht davon aus, daß sie jemals Herr ihrer Gedanken waren. Schon ein einfaches Experiment wie der Versuch, über einen bestimmten Zeitraum nur ein Wort oder einen Satz und nichts anderes zu denken, belegt, daß es sich bei diesem Tun eher um einen Prozeß des Reflektierens handelt, der von physischen wie psychischen Impulsen bestimmt wird, über die der Mensch keine Kontrolle hat, weil seine Reaktivität der Beschleunigung der Ereignisse stets hinterherhinkt.

Natürlich würde sich der als meinungsführender Intellektueller der Berliner Republik geltende Journalist mit dieser Engführung des Begriffs "Denken" mißverstanden fühlen, doch geht er selbst mit der Behauptung, der Einfluß der neuen Medien verändere die neurologische Struktur des Gehirns, von einem vulgärbiologistischen Determinismus geistigen Tuns aus. Wenn Schirrmacher sich in seinem vieldiskutierten Buch "Payback" allen Ernstes auf die Aussage eines Wissenschaftlers beruft, laut dem der Mensch nicht über genügend Gehirnmasse verfüge, um die auf ihn einprasselnden Informationen überhaupt zu verarbeiten, um schließlich die Gefahr an die Wand zu malen, daß der Mensch den datenverarbeitenden Geräten immer ähnlicher werde, dann reduziert er das humane Entwicklungspotential auf die reprojektive Adaption dessen, was dieser sich in seinem Unvermögen, mit seiner sozialen wie natürlichen Umwelt keinen zerstörerischen Umgang zu führen, als Grenze seiner Möglichkeiten gesetzt hat.

Kurz gesagt, Schirrmacher verkauft sich nicht etwa aus demutsvoller Einsicht in die Unvollkommenheit menschlicher Entwicklung oder existentialistischer Kritik an der Vergeblichkeit seines Tuns, sondern aus bequemer Bescheidenheit unter Wert. Nur so entgeht er der Mühe, die von ihm beschriebene Fremdbestimmung durch die Analyse des sie treibenden Interesses zu der weiterführenden Frage ihrer Überwindung zu öffnen. Ihm geht es schlicht darum, sich als professioneller Kulturpessimist über eine gesellschaftliche Entwicklung beschweren zu können, ohne sie verwerfen zu müssen, da er als Fürsprecher kapitalistischer Eliten von ihr lebt. Das von ihm ausgemachte Dilemma des nach Erkenntnis strebenden Menschen, der sich vom Aufwand der Wissensproduktion überrollt fühlt, weil das Gefäß, mit dem er sich den Ozean aneignen will, schon deshalb zu klein sein muß, weil das dazu erforderliche Teilen und Zählen stets zu Lasten des größeren Ganzen unbescheidenen Mutes geht, ist hausgemacht.

Es ist Ergebnis einer Produktivkraftentwicklung, deren destruktive Wirkung jedem Arbeiter, der durch die Rationalisierung der Produktionsbedingungen immer gründlicher zu Lasten seiner physischen Substanz ausgepreßt wird, seit jeher bekannt ist. Mit der Durchdringung der Lebens- und Arbeitswelten durch mikroelektronische Agenten und Prozesse werden Entscheidungsvorgänge mechanisiert, die zuvor von Menschen vollzogen wurden, um Kosten der humanen Arbeit und des materiellen Ressourcenverbrauchs zu senken. So komplex diese Aufgaben auch sein mögen, sind sie doch an Parametern und Bedingungen orientiert, deren Verarbeitung mit Denken in einem produktiven, zu qualitativen Sprüngen fähigen Sinne nicht zu verwechseln ist. Daß die Entlastung des Menschen von formalen Verwaltungsroutinen und Rechenaufgaben dennoch zu seinem Nachteil gereicht, ist Ergebnis der kapitalistischen Verwertungsstruktur, die das damit freigesetzte Arbeitspotential gegen dessen Erwerbsmöglichkeiten wendet.

Die Transformation der industriellen Güterproduktion in einen kognitiven Kapitalismus vernichtet Lohnarbeit in einer solchen Größenordnung, daß immer weniger Menschen in diesem System ein materiell angemessenes Leben führen können. Der von Schirrmacher beklagten Konditionierung des Menschen auf die zahlreichen Ein- und Ausgabefunktionen der neuen Medien und Kommunikationsmittel steht eine Verarmung gegenüber, die den dabei erzeugten Aufwand als Ausdruck eines grundsätzlichen Scheiterns dieser Form der Produktion und Reproduktion erkennen läßt. So münden die immens gewachsenen Möglichkeiten, Dinge in Erfahrung zu bringen und sich mitzuteilen, nicht zufällig in eine zusehends unverbindliche Sozialkultur und triviale Medienlandschaft.

Dem andern permanent per SMS oder Twitter mitzuteilen, was man gerade macht und tut, fügt der Qualität menschlichen Kontakts nichts Substantielles hinzu, sondern dient im Zweifelsfall dazu, das elementare Problem, dem andern überhaupt zu begegnen, zu überspielen. Unterzieht man das per Internet verfügbare Medienangebot einer genauen Untersuchung, dann stößt man auf eine ungeheure Vervielfältigung identischer Nachrichten und ein lärmendes Spektakel textlicher wie audiovisueller Belanglosigkeiten, so daß man es zu einem Großteil mit einem medialen und kommunikativen Rauschen zu tun hat, das zu ignorieren Schirrmachers Problem eines "Informationsoverkill" weitgehend beseitigt.

So gründet das von Medienkritikern ausgemachte Problem, daß es den Konsumenten der großen Informationsmengen an Kriterien der Bewertung und Zuordnung ermangele, ebensowenig in der Quantität des Angebots wie der individuellen Aufnahmefähigkeit, sondern schlicht in der unzureichenden Entwicklung der persönlichen Souveränität im Umgang mit gesellschaftlichen Herausforderungen. Allein die unterentwickelte Kritik an dem Verwertungsinteresse, das diese Entwicklung vorantreibt, vermittelt dem Mediennutzer den Eindruck der Überforderung. Macht er sich daran, die informationstechnische Rundumbeschallung als Angriff auf den bloßen Versuch zu begreifen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, dann entdeckt er schnell, daß die apparative Konditionierung Methode hat. Sie soll ihn fit für die von datenelektronischen Prozessen dominierte Arbeitswelt mache, sie soll ihn dazu bringen, ursprünglich auf Kosten der Anbieter bereitgestellte Arbeiten selbst zu verrichten, sie soll sein Handeln und Tun für Staat und Wirtschaft so weitgehend wie möglich transparent und bestimmbar machen, sie soll seinen sozialen Habitus und sein politisches Bewußtsein formieren, um ihn umfassend beherrschbar zu machen.

Da Schirrmacher als ein Produzent des kulturindustriellen Verblendungszusammenhangs selbst an der Inszenierung einer Weltsicht beteiligt ist, die konkrete gesellschaftliche Gewaltverhältnisse undurchschaubar machen und damit zementieren soll, kann seine Analyse der mikroelektronischen Produktionsweise nur die Verfügungspostulate und -strukturen der eigenen Klasse reproduzieren. Die biologistische Determination seines Begriffs vom Denken stellt diesem bürgerlichen Intellektuellen ein - allerdings interessenbedingt erwirtschaftetes - Armutszeugnis aus. Dies in Übereinstimmung mit einem vulgärphilosophischen neurowissenschaftlichen Diskurs vorzuhalten entledigt ihn der Anerkennung des emanzipatorischen Potentials dieser kulturtechnischen Entwicklung. Schirrmacher verteidigt mit seinem Anspruch auf ein in überschaubaren neuronalen Bahnen verlaufendes, durch festverschaltete Synapsen der Zielgruppe zuverlässig vermitteltes, durch mehrheitsfähige Terminologie kommunikativ geschientes und mit konsensgestützten Wahrheiten stets die eigene Definitionshoheit bekräftigendes Denken die Hegemonie einer Meinungsführerschaft, die nicht mit "Fakten, Fakten, Fakten" protzen muß, um ihren Nutzen für den Bestand herrschender Verhältnisse unter Beweis zu stellen.

Inmitten des grellen Kommerzes, der sprachlichen Dekadenz und panoptischen Rückkanäle des Internetgetriebes sind zahlreiche Menschen am Werk, die mikroelektronische Wüste zu bewässern und Blumen humanen Fortschritts erblühen zu lassen. Wo immer sich Menschen in Text, Ton und Bild zu Wort melden, die dem Verwertungszwang der kapitalistischen Vergesellschaftung entgegentreten und über den Reflexionshorizont empirischer Zirkelschlüsse hinausblicken, da wird nach bestem Vermögen gedacht, gesprochen und gestritten.

30. Dezember 2009