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KULTUR/0859: Die schöne neue Welt der IT-Prothetik ... (SB)



Mit der von Medien- und IT-Managern seit langem angestrebten Konvergenz von Computer und TV kehrt das audiovisuelle Spektakel in den Sessel der Fernsehunterhaltung zurück. Der auf der Internationalen Funkausstellung (IFA) von Google-Chef Eric Schmidt angekündigte Schritt, TV-Sender, Pay TV und YouTube-Videos über einen Internetbrowser auf den großen Bildschirm, der den durchschnittlichen Medienkonsum immer noch dominiert, zu bringen, ist die logische Konsequenz einer Kulturindustrie, der es zuallerletzt um die Ermutigung des Menschen zu selbstbestimmter und aktiver Gestaltung seiner Lebenswelt geht. Das brächte immer auch die Möglichkeit des Abschaltens und damit eines Kontrollverlusts mit sich, den zu riskieren weder die kommerziellen Content-Anbieter noch die Sachwalter gesellschaftlicher Herrschaft vorhaben.

Mit dem erweiterten Zugriff auf audiovisuelles Material durch Menschen, die sich bislang nicht bequemten, den Fernsehsessel gegen einen Schreibtischstuhl umzutauschen, wird die Dominanz einer auf Bilder und Töne ausgerichteten Rezeption festgeschrieben, ohne die sich jegliche Massenindoktrination sehr viel mühsamer gestaltet. Zwar lassen sich auch über Texte Meinungen steuern, doch hat sich der kurze Weg vom massenhaft vervielfältigten Bild zum individuellen "Verbraucher" als das zentrale Mittel sozialtechnokratischer Konditionierung bewährt. Das Lesen in einer das Auge nicht weiter irritierenden und vereinnahmenden Umgebung verlangt dem Publikum mehr Mühe zum Erfassen eines Inhalts als das Betrachten zur schnellen Rezeption vorformatierter und durchorganisierter Bilderwelten ab. Lesen gewährt dem Menschen ein eigenes Zeitmaß, in dem er sich der Worte und Sätze bemächtigen kann, anstatt ihm das Tempo der Kameraschwenks und Bildschnitte aufzuzwingen, und es verzichtet auf die Überwältigung seiner Gefühlswelt mit Hilfe ästhetischer Korrespondenzen, mit denen der Zuschauer auf bestimmte optische und akustische Sensationen reagiert.

Google-Chef Schmidt ist es als Vorstandsvorsitzender eines der größten IT-Unternehmen der Welt nicht zu verdenken, daß er Feuer und Flamme für eine instrumentelle Optimierung menschlicher Fähigkeiten ist, die auf nicht so technikbegeisterte Menschen eher wie die Negation ihrer vertrauten kognitiven Reichweite und Kompetenz wirkt: "Die Computer werden für uns arbeiten. Und sie werden die Welt zu einem besseren Ort machen. Wir werden uns nicht mehr verirren, wir werden nichts mehr vergessen, weil sich die Computer alles merken. Mit dem Internet wird das Leben besser." (Bild.de, 07.09.2010)

Zweifellos wäre nichts dagegen zu sagen, wenn, wie in den von dystopischen Visionen ungetrübten Zeiten eines naiven Fortschrittsoptimismus propagiert, fremdbestimmte Arbeit von Maschinen verrichtet würde. Die schlichte Annahme, das technisch Machbare würde stets zum Wohl des Menschen gereichen, wurde jedoch in vielen Fällen auf gegenteilige Weise wahr. Die mikroelektronische Revolution in der Arbeitswelt hat die Ausbeutung verdichtet, anstatt die Erwerbstätigen in die Freiheit eines selbstbestimmten Lebens zu entlassen, in dem eine menschen- und umweltfreundliche Technik für alle reproduktiven Bedürfnisse Sorge trägt. Das Rationalisierungspotential der elektronischen Datenverarbeitung ist längst nicht ausgeschöpft, so daß die Verdrängung hochwertiger Facharbeitsplätze durch einen Niedriglohnsektor, in dem neofeudales Dienertum Urständ feiert, weitergehen wird.

Schmidt vergißt allzuleicht, daß die von ihm bejubelte Computerisierung der Lebens- und Arbeitswelten nur diejenigen begünstigt, die am oberen Ende der Wertschöpfungskette das Privileg genießen, administrative und kreative Tätigkeiten verrichten zu können. An der Basis der globalen Produktivität wird der ökonomische Output nach wie vor im Schweiße körperlichen Verbrauchs erwirtschaftet, und auch Bürojobs wie etwa die Arbeit in Call Centern sind fest im Griff der informationstechnischen Erfassung und zeitlichen Verdichtung aller Abläufe, zwischen denen der organisationstechnisch unvermeidbare Leerlauf früher Schneisen schöpferischer Besinnung und sozialen Kontaktes schlug.

Seine Behauptung, die Menschen vergäßen nichts mehr, weil die Computer sich alles merken, setzt einen Zugang zu den damit betrauten Maschinen voraus, der keineswegs unter allen Umständen gewährt werden muß. Unbeantwortet bleibt die Frage nach der Verfügungsgewalt über die Informationstechnik, die zukünftig vom privaten PC in die Cloud ausgelagert werden soll, mit der der einzelne Nutzer einem zusehends abstrakten Apparat der Nutzung und Speicherung des eigenen Datenmaterials gegenübersteht. Die in diesem Zusammenhang prognostizierte Verschmelzung von Privat- und Arbeitsleben [1] erfahren viele Erwerbstätige heute schon als zusätzliche, aber keineswegs extra entlohnte An- und Überforderung. So lange Erwerbsarbeit zur Folge hat, sich mit Tätigkeiten verdingen zu müssen, die nicht den eigenen Interessen und Neigungen entsprechen, hat man es mit einer Maximierung von Fremdbestimmung zu tun, die mit einem besseren Leben nicht in Übereinstimmung zu bringen ist.

Die soziokulturellen Folgen einer IT-Prothetik, an die der Mensch immer mehr Fähigkeiten delegiert, die ihn erst zu einem solchen gemacht haben, sind daher durchaus als Angriff auf die Möglichkeit selbstbestimmten Lebens zu verstehen. So lange informationstechnische Systeme kapitalistische Produktionsbedingungen reflektieren, so lange muß ihr emanzipatorischer Nutzen erkämpft werden. Der dem Konsumismus innewohnenden Tendenz, den Kunden auf die Passivität seines Verbrauchs festzulegen, um ihn möglichst widerstandslos in die ihn verwertende Produktions- und Reproduktionsmaschinerie einspeisen zu können, wird jegliches autonome, die ihn verfügende Maschinenintelligenz negierende Tun als Störfaktor identifiziert. Wenn Schmidt als Sachwalter der weltgrößten Suchmaschine erklärt, daß es zur Bereitstellung einer "autonome Suche" unter Einbeziehung individueller Informationen wie etwa des E-Mail-Verkehrs zunächst darum gehe herauszufinden, was jemand gerade tue, um ihm seitens Google dann Vorschläge zu unterbreiten, "was Sie als nächstes machen sollten" [2], dann reduziert er den Menschen auf das Format seiner Analyseinstrumente. Welches politische und ökonomische Interesse auch immer über diese nicht nur die Arbeit, sondern letztlich alle Vergesellschaftung bestimmende Struktur artikuliert wird, es trifft auf Menschen, die nicht schlechter dagegen gewappnet sein könnten, sich noch den letzten Rest an Eigenständigkeit nehmen zu lassen.

Fußnoten:

[1] http://www.heise.de/newsticker/meldung/Studie-Arbeiten-in-der-Cloud-wird-kuenftig-zum-Standard-1074638.html

[2] http://www.heise.de/newsticker/meldung/Google-Chef-baut-auf-das-personalisierte-und-autonome-Internet-1074544.html

8. September 2010