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KULTUR/0888: Neue Akzeptanz für Sozialeugenik schaffen ... Ethik-Preis für Peter Singer (SB)



Mit der erstmaligen Verleihung ihres Ethik-Preises an die italienische Philosophin Paola Cavalieri und den australischen Philosophen Peter Singer hat die Giordano-Bruno-Stiftung (GBS) ein Zeichen wegweisender Art gesetzt. Der zusammen mit seiner Kollegin für die Initiierung des Great Ape Projects (GAP) ausgezeichnete Preisträger Singer ist als Exponent eines bioethischen Nutzendenkens bekannt, dessen Verfechter zwar allerlei Anstrengungen unternehmen, sich als Menschenfreunde im universalen Sinne darzustellen. Doch selbst wenn Singer, wie GBS-Vorstandssprecher Michael Schmidt-Salomon nicht müde wird zu behaupten, sich mit Herz und Seele für das Lebensrecht von Kranken und Behinderten einsetzen sollte, so ist der Logik des von ihm propagierten Utilitarismus die biomedizinische Elimination körperlicher Normabweichungen immanent.

"Fakt ist: Hätte meine Mutter einst die Schwangerschaft mit mir unterbrochen, hätte 'ich' damit keine Probleme, denn dieses 'Ich', das ich heute bin, hätte es gar nicht gegeben." [1] Schmidt-Salomons Argument für die Beseitigung schwerer Behinderungen wird nicht von Betroffenen erhoben, sondern von Menschen, die meinen, über das Lebensrecht anderer anhand von Kriterien befinden zu können, die ihrer Definitionsmacht unterstehen. Diese bedient sich insbesondere der Verknüpfung des Lebensrechts mit der Ausbildung eines personalen Ich-Bewußtseins oder auch einer Persönlichkeit. Bei diesen Kategorien handelt es sich um gesellschaftliche Zuschreibungen, mit denen sich das universale Lebensrecht bei allen Menschen aushebeln läßt, die noch nicht oder nicht mehr in der Lage sind, sich auf diese Weise darzustellen. Wie die etymologische Herleitung des Begriffs "Person" von "Maske" nahelegt, geht es dabei um ein gesellschaftlich zu- oder aberkanntes Lehen, das Menschen in physischen Grenzbereichen wie Dementen oder sogenannte Wachkomapatienten nur bedingt zugestanden wird.

Mit der Einteilung des Menschen in Person respektive Nicht-Person und der Bemessung seines Lebenswerts nach dem utilitaristischen Parameter des größten Nutzens für die größte Zahl relativiert Singer das Lebensrecht gerade dort, wo es am unverzichtbarsten ist, bei Menschen, die keine Stimme haben, die ausgegrenzt und stigmatisiert sind, die niemandem Nutzen bringen, die, kurz gesagt, mit allem geschlagen sind, was als schwach und ohnmächtig identifiziert wird. In maßgeblich vom Imperativ der Ökonomie bestimmten Gesellschaften definiert sich Nutzen in erster Linie als Verwert- und Verfügbarkeit. Wer nicht zum gesamgesellschaftlichen Produkt beiträgt, sondern ganz im Gegenteil davon leben muß, was andere erwirtschaften, wird durch die Ideologie des Utilitarismus von vornherein benachteiligt. Auch wenn man Singer nicht unterstellen kann, daß er die aktive Elimination kostenintensiver nichteinwilligungsfähiger PatientInnen betreibt, so öffnet die von ihm propagierte und von der GBS honorierte Nützlichkeitsdoktrin perspektivische Horizonte einer sozialeugenischen Überlebenslogik, die diejenigen Menschen am meisten bedroht, die es bereits am schwersten haben, ihr Dasein unter der Bedingung marktwirtschaftlicher Konkurrenz zu fristen.

Eben zu diesem Zweck bedarf es einer von universalen Werten abstrahierenden Ethik. Sie soll Entscheidungsgrundlagen in Fällen an die Hand geben, in denen etwa knappe Ressourcen den Tod einer gewissen Anzahl von Menschen unausweichlich macht. Wenn für Katastrophensituationen bei begrenzten medizinischen Mitteln unter dem Begriff "Triage" darüber nachgedacht wird, wer zuerst und wer zuletzt und wer vielleicht gar nicht versorgt wird, dann läßt sich dieses Konzept bei Etablierung einer entsprechenden Nützlichkeitsdoktrin in alle Richtungen entufern. Jeden Tag verhungern Zehntausende Menschen daran, daß politische und ökonomische Weichenstellungen, die ihren Mangel bedingen, von Menschen vorgenommen wurden, die weit davon entfernt sind, ein solches Schicksal zu erleiden. Die neoliberale Austeritätspolitik wird mit der Refinanzierung überschuldeter Banken begründet und schafft objektive Notlagen, an denen Menschen leiden, die keinen Cent auf dem Finanzmarkt investiert haben. Materielle Mißstände dieser Art produzieren massiven Legitimationsbedarf, um das offenkundige Unrecht der Verteilungspolitik von unten nach oben durchsetzen zu können. Der von Singer propagierte bioethische Utilitarismus bietet sich mithin an, die Organisation des Mangels zu optimieren, indem an den Rändern vermeintlich nicht gegebenen Lebenswerts geschnitten wird, was zur Absicherung des in den Kategorien biologischer und ökonomischer Entwicklungstauglichkeit positiv bestimmten Lebenswerts nutzbar gemacht werden soll. Die dazu zu treffende Wahl wird jedenfalls nicht von denjenigen getroffen, die in der Sozialeugenik des NS-Staates ihr Lebensrecht als "Ballastexistenzen" verwirkt hatten.

Bezeichnenderweise gelangen die Apologeten des Utilitarismus nicht zu der Schlußfolgerung, daß der größte Nutzen der größten Zahl in der Verwirklichung einer sozialistischen Gesellschaft besteht, in der das Privateigentum an Produktionsmitteln und Finanzinstituten aufgehoben wird. Ganz im Gegenteil dienen sich utilitarische Argumente dem neoliberalen Gesellschaftsparadigma an, indem Stärke belohnt und Schwäche bestraft wird. Wie die Gewinner zu ihrer privilegierten Stellung gelangt sind, ist für die bloße Empirie gesellschaftlicher Verhältnisse nicht von Belang. Was sich evolutionär bewährt hat, und sei es durch nackte Ellbogenmentalität, wird begünstigt, was sich als dem Überlebenskampf nicht gewachsen erwiesen hat, soll auf diese oder jene Weise eliminiert werden.

So spricht sich Singer für die Legalisierung des kommerziellen Organhandels aus [2], weil den Armen damit zumindest eine kleine Verdienstmöglichkeit bliebe, er plädiert für eine angemessene Entschädigung in Afghanistan umgebrachter Zivilisten durch die NATO [3], weil die Kriegführung dadurch humaner und effizienter würde, hält globale Großkonzerne wie McDonald's für eine gute Adresse bei Ernährungsfragen, weil sie mehr auf die Qualität ihrer Produkte achteten als kleine Vermarkter, und lobt die grüne Gentechnik als vielversprechende Entwicklung [4]. Der an der Princeton University in New Jersey lehrende Bioethiker ist ein Pragmatiker, wie er im Buche steht, und könnte von linker Gesellschafts- oder Kapitalismuskritik nicht weiter entfernt sein. Er scheint es für seine Aufgabe zu halten, wie sich anhand der zahlreichen Wortmeldungen des Philosophen zu gesellschaftlichen Fragen aller Art studieren läßt, das herrschende Verwertungssystem effizienter funktionieren zu lassen, und zwar nach dem ihm inhärenten Maßgaben des Nutzens.

Ihn als Tierrechtler, wie im Falle der aktuellen Preisverleihung geschehen, zu würdigen erweckt den Eindruck, als wolle man dem herrschaftskritischen und emanzipatorischen Anliegen der Tierbefreiung ein Kuckucksei ins Nest legen. Singers bioethischer Utilitarismus, der sich etwa in der Gutheißung der niederländischen Euthanasiepraxis, die längst nicht mehr allein an Sterbewilligen, sondern auch Nichteinwilligungsfähigen vollzogen wird, oder dem Abgleich des Lebensrechts von Behinderten und hominiden Affen ausdrückt, macht auf verhängnisvolle Weise eine wirtschafts- und staatskonforme Kosten-Nutzen-Logik für Fragen von Leben und Tod akzeptabel. Seine für Tierrechte eintretenden Anhänger können Tierversuche und Fleischproduktion gutheißen, wenn sie es nur verstehen, die dafür zuständigen ethischen Abwägungen aufzumachen. Die von ihm betriebene Aufhebung der zwischen Mensch und Tier gezogenen Grenze stellt die Ausbeutung eines Lebewesens durch das andere nicht grundsätzlich in Frage, sondern etabliert eine lediglich verlagerte Struktur des Raubes, indem angeblich weniger intelligente Tiere weiterhin dem tödlichen Verbrauch ausgesetzt werden. Damit ist die von Singer vertretene Tierrechtsethik nicht nur bar jeder Absicht, die Beharrungskräfte des herrschenden Gewaltverhältnisses zu überwinden, sie steht jeglicher Radikalität, die dies für sich in Anspruch nimmt, feindselig gegenüber.

Die Preisverleihung der GBS an Peter Singer könnte nicht besser in eine gesellschaftliche Situation passen, in der Neofeudalismus und Sozialrassismus unter den Eliten grelle Blüten einer erfolgsgestählten Distinktionssucht treiben. Wenn die Initiatoren der Preisverleihung darüber lamentieren, daß der Bioethiker noch in den 1990er Jahren persona non grata in deutschen Hörsälen war, dann geben sie zu erkennen, daß sie ganz gezielt in die Lücke vorstoßen, die das Schwinden einer linksradikalen Biomedizin- und Bioethikkritik gerissen hat, gerade weil diese das Aufscheinen des biologisch und technisch optimierten Übermenschen nicht nur mit wissenschaftsimmanenten, sondern antikapitalistischen Argumenten bekämpft.

Fußnoten:

[1] http://www.giordano-bruno-stiftung.de/meldung/signal-fuer-tierrechte-aufgeklaerte-streitkultur

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub0911.html

[3] http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2011/apr/01/afghan-life-nato?INTCMP=SRCH

[4] http://www.guardian.co.uk/environment/2006/sep/08/food.ethicalliving?INTCMP=SRCH

Zur Kritik der ethischen Definition des Mensch-Tier-Verhältnissses siehe auch:
BERICHT/050: Antirep2010 - Befreiung als universales Anliegen aller Lebewesen (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/report/prber050.html

5. Mai 2011