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KULTUR/0898: Postmodern links ... Jakob Augstein lamentiert über "moralische Kernschmelze" (SB)



Die britischen Riots als "soziales Fukushima" zu bezeichnen, so Jakob Augstein unter der Überschrift "Moralische Kernschmelze" auf der Freitag [1], verrät viel über die bourgeoise Distanz, mit der soziales Elend ignoriert wird, um es dann, wenn die Betroffenen militant werden, als Bedrohung zu diagnostizieren. Soziale Kämpfe sind in Europa an der Tagesordnung, auch wenn sie hierzulande häufig nicht als solche wahrgenommen werden. Die Aufstände in den Banlieues französischer Großstädte, wilde Streiks und Fabrikbesetzungen, die Massenproteste in Griechenland gegen die Ausplünderung des Landes durch das Spardiktat der EU und des IWF, lange vor der drastischen Verteuerung der Nahrungsmittel erfolgte Hungeraufstände in Slowenien und Bulgarien, die vielen bei dem Versuch, Armut und Unterdrückung zu entfliehen, umgekommenen Migrantinnen und Migranten - die moralische Kernschmelze ist seit langem im Gange, und sie ist nicht dadurch weniger grausam, wenn die Betroffenen ihr Schicksal still und leise ertragen.

Zu behaupten, die "Gerechtigkeit steht auf dem Spiel" [1], postuliert ein abstraktes Rechtsideal, das in Eigentumsordnungen seit jeher auf Unrecht basiert. Die Forderung, nämliche Gerechtigkeit zu wahren, läuft im Kern auf die Sicherung dieser Ordnung unter Linderung allzu krasser Formen der Ausbeutung hinaus. Augstein projiziert die Geschichte der Gewinner auf eine Zukunft, in der deren Dominanz nicht mehr mit der gleichen Gewißheit unterstellt werden kann, wie es etwa im rheinischen Kapitalismus und der sozialen Marktwirtschaft der Fall war. Der einst etablierte Klassenkompromiß bedurfte zum einen der Herausforderung durch den Realsozialismus, der von Augstein ohne Abstriche mit der Idee des Sozialismus als solchem verworfen wird, zum andern einer industriellen Form der Kapitalakkumulation, die mit der mikroelektronischen Rationalisierung der Produktion aufgrund der nicht mehr in gleichem Maße erforderlichen Lohnarbeit weggefallen ist.

Neoliberale und Linke mit einem Federstrich gemeinsam auf dem "Scherbenhaufen der Ideologien" zu entsorgen und die Frage aufzuwerfen, ob "die Demokratie oder der Kapitalismus" in dieser Auseinandersetzung siegte, läßt den politischen Standort Augsteins im Nebel der höheren Warte bloßer Beobachtung aufeinanderprallender Kräfte verschwinden. Seine Definition dessen, wo "Im Zweifel links" - so der Titel seiner Kolumne auf Spiegel Online [2], in der sein Text in ähnlicher Form veröffentlicht wurde - zu verorten wäre, erweist sich denn auch als gegen jegliche Systemkritik gerichtete Apologie herrschender Verhältnisse:

"Links in einem politischen Sinne wäre es, das parlamentarische System gegen seine Feinde zu verteidigen und innerhalb dieser Gesellschaft für mehr Gerechtigkeit zu kämpfen. Der Posten ist frei, seit die Sozialdemokraten ihn gekündigt haben. Dafür müsste sich Die Linke aber endlich von dem Gedanken verabschieden, die Vollendung der Gesellschaft liege jenseits des parlamentarischen Systems. Dort wartet nur die Stasi. Sonst nichts."

Mit einem dünnen Aufguß des Habermasschen Verfassungspatriotismus ist zwar viel Staat, aber keinesfalls eine zum Kapitalismus antagonistische Demokratie zu machen. Darum geht es Augstein als Verleger einer zum publizistischen Gemischtwarenladen für die Kulturbourgeoisie heruntergekommenen Wochenzeitung, in der einst linke Debattenkultur auf hohem Niveau gepflegt wurde, auch nur dem schönen Schein nach. Der Parlamentarismus läßt sich von wertkonservativer Seite her nicht minder wirksam und möglicherweise überzeugender verteidigen als mit einem linken Anspruch, dessen moralischer Zustand am Grad affirmativer Schadensminderung zu bemessen ist. Daß überall dort, wo die repräsentative Demokratie, die Augstein zweifellos meint, wenn er das Innere dieser Gesellschaft zum alternativlosen Feld politischer Kämpfe erklärt, in Frage gestellt wird, nichts als üble staatliche Repression warte, reduziert das menschliche Entwicklungspotential auf die Norm jenes neokonservativen Denkens, für das mit der liberalen Marktwirtschaft das Ende der Geschichte erreicht ist.

Dem zugrunde liegt eine Anthropologie des Mängelwesens Mensch, der die Herrschaft über seinesgleichen unabdinglich ist, weil es nun einmal quasi naturwüchsige Differenzen zwischen Unter- und Oberschicht, zwischen subalterner Unterwerfung und bildungsbürgerlichem Führungsanspruch gebe. Linke Parlamentarismuskritik, die die Fortsetzung der Klassenherrschaft in demokratisch verfaßten Gesellschaften aufdeckt, wird mit dem argumentativen Kurzschluß, den Kapitalismus aus einer kapitalistischen Gesellschaft mit moralischen Argumenten herauszurechnen, nicht widerlegt. Das selektive Rekrutieren der Funktionseliten durch soziale Herkunft und ökonomische Privilegierung, die Einflußnahme der Kapitalmacht auf die allgemeine Meinungsbildung, die Institutionalisierung von Arbeitskämpfen unter Verbot des politischen Streiks, eine ideologische Normenkontrolle, die sich in der BRD-Geschichte antikommunistischer Repression als autoritärer Demokratismus unter dem Banner freiheitlich-demokratischer Grundordnung darstellt, verweisen auf eine formierte Arbeitsgesellschaft postmodernen Typs. In ihr nimmt jeder den ihm - selbstverständlich unter Einhaltung der Werte der real existierenden Demokratie - zugedachten Platz ein und zeigt sich sogar dankbar dafür, wenn er überhaupt in den Genuß kommt, seine Arbeitskraft verkaufen zu dürfen. Sollten nicht mehr nur einzelne Menschen, sondern relevante Gruppen der Bevölkerung auf den Gedanken kommen, ihre kulturelle und sozialökonomische Einbindung in fremdbestimmte Arbeits- und Lebensverhältnisse grundsätzlich in Frage zu stellen, läßt das demokratisch legitimierte Gewaltmonopol nicht lange auf sich warten.

Die von Augstein praktizierte Rochade, den Entwurf eines sozialistischen oder gar kommunistischen Gemeinwesens unter Verdacht brutaler Menschenfeindlichkeit zu stellen, während an imperialistischen Kriegen, einer neokolonialistischen Weltwirtschaftsordnung und einer durch neue Formen der Zwangsarbeit verschärften Mehrwertabschöpfung prosperierende Demokratien zum verteidigungswerten Ideal erhoben werden, appelliert an eine linke Hegemonie des saturierten, grün eingefärbten und humanitär legitimierten Bürgertums. Augstein erfüllt seine Aufgabe als medialer Legitimationsproduzent nach Maßgabe einer herrschaftskonformen Vereinnahmung des politischen Standorts "links" auf eben die Weise, die er der Partei Die Linke anlastet: Sie habe "sich das Wort 'links' unter den Nagel gerissen so wie die FDP seinerzeit das Wort von der Freiheit. Das bekommt den Begriffen nicht. Sie degenerieren in der politischen Abnutzung." [1] So richtet sich sein Lamento über die "moralische Kernschmelze" am Ende gegen diejenigen, die seinesgleichen bei der Ausübung einer Definitionshoheit stören, der die realen Verhältnissen zwischen Menschen so gleichgültig sind wie die Begriffe, die sie verfügen, sakrosankt - postmodern eben.

Fußnoten:

[1] http://www.freitag.de/politik/1133-moralische-kernschmelze

[2] http://www.spiegel.de/thema/spon_augstein/

19. August 2011