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KULTUR/0915: Kulturkampf statt Klassenkampf? - Ultraorthodoxes Ärgernis beschäftigt Israel (SB)



Ob es sich bei einer spezifischen Fraktion der Gesellschaft um eine schützenswerte Minderheit handelt, die sich der Diskreditierung oder gar Verfolgung ausgesetzt sieht, oder sich im Gegenteil Partialinteressen anschicken, der Mehrheit ihren Willen aufzuzwingen, entscheidet sich am Verhältnis der Staatsgewalt und Staatsdoktrin zu ihr. Die orthodoxen Juden genießen in Israel einen Sonderstatus, da sie weitgehend von der Beteiligung an der Erwerbstätigkeit und dem ansonsten verbindlichen Wehrdienst freigestellt sind und mit einem erheblichen Teil des Steueraufkommens dauerhaft subventioniert werden. Allein daraus folgt zweifelsfrei, daß sie aus staatlicher Sicht als erwünschter Faktor im Kontext der Herrschaftssicherung eingestuft und deshalb ungeachtet des nominell säkularen Staatswesens massiv unterstützt werden. Für die Mehrheitsgesellschaft stellt sich mithin die Frage, ob sie insbesondere im Kontext sozialer Verwerfungen, die längst zu einer Verarmung beträchtlicher Teile der ehemals breiten Mittelschicht geführt hat, diese Zwangsabgabe auch künftig zu leisten bereit ist.

Beschränkte sich die Orthodoxie darauf, gemäß ihrer Glaubensüberzeugung unter ihresgleichen zu leben und darüber hinaus mit friedlichen Mitteln zu missionieren, um andere für ihr Bekenntnis zu gewinnen, würde dies durch die Religionsfreiheit gedeckt. Das gälte selbst dann, wenn man sie für ein reaktionäres patriarchalisches System erachtete, entfesselte doch der Ruf nach Sanktionen der Staatsgewalt repressive Kräfte, die sich gegen alle Minderheiten zu richten drohten.

Nicht hinzunehmen ist demgegenüber eine Glaubensüberzeugung, die aus einer für sich reklamierten Vorzugsstellung und Einzigartigkeit das Recht und die Pflicht ableitet, andere mit Feuer und Schwert heimzusuchen. Der Schulterschluß des überwiegenden Teils der jüdischen Orthodoxie mit dem ursprünglich radikal säkularen zionistischen Entwurf resultierte aus der gemeinsamen Absicht, das expansionistische Großisrael durchzusetzen. Hier paart sich religiös verbrämter Rassismus mit waffengestütztem Imperialismus zum Raubzug an den Palästinensern, die mit Blut, Hunger, Vertreibung und Entwürdigung für die von den westlichen Mächten unterstützte israelische Suprematie bezahlen müssen. Wer die Lage der Frauen in Afghanistan, der Minderheiten im Iran oder der Opposition in Syrien beklagt, muß sich die Frage gefallen lassen, wie er es mit dem Schicksal der Palästinenser und der Drift Israels zum rassistischen Gottesstaat hält.

Wenn Oppositionsführerin Tzipi Livni von der Kadima-Partei laut der Zeitung Haaretz auf ihrer Facebook-Seite schreibt, daß es in der jetzt geführten Debatte Grenzen gebe, die nicht überschritten werden dürften [1], und Verteidigungsminister Ehud Barak warnt, es sei "eine rote Linie" überquert worden [2], stellt sich daher zuallererst die Frage, warum israelische Spitzenpolitiker und westliche Medien erst jetzt und ausgerechnet an dieser Stelle das Unerträgliche im Handeln einer Minderheit unter den Orthodoxen ausmachen und kritisieren.

Was als unverzeihlicher Frevel angeprangert wird, ist die jüngste Demonstration ultraorthodoxer Juden in KZ-Häftlingskleidung und mit gelben Judensternen, die als Tabubruch angesehen wird. Mehrere hundert Menschen hatten im Jerusalemer Stadtteil Mea Schearim gegen eine ihrer Meinung nach feindselige Berichterstattung über sie in den Medien protestiert. Der Vorgang als solcher mutet insofern aberwitzig an, als eine strengreligiöse Minderheit unter den Ultraorthodoxen für sich das Recht in Anspruch nimmt, Frauen in den zweiten Rang zu verweisen und Geschäfte zu verwüsten, die ihrer Auffassung nach zu unzüchtigen Verhalten verleiten, doch sich zugleich der "Verfolgung durch die nichtreligiöse Mehrheit" ausgesetzt glaubt: In Nazideutschland habe man die Juden physisch verfolgt, in Israel gehe es um die ideologische Verfolgung der Ultraorthodoxen. Ihre Vorzugsbehandlung im jüdischen Staat mit dem Holocaust zu vergleichen, stellt die Verhältnisse auf so unerträgliche Weise auf den Kopf, daß sich Holocaust-Überlebende erschüttert zeigten und erklärten, sie fühlten sich mit Tausenden anderen beleidigt.

Für die Regierung ist dieser vorläufige Höhepunkt in einer Reihe auch von der ausländischen Presse vielbeachteten ultraorthodoxen Fehl- und Übergriffe mit einem Imageverlust sowohl der rechtsgerichteten Koalition als auch des internationalen Ansehens Israels verbunden, da sich selbst ausländische Konzernmedien nunmehr offen für innerisraelische Verhältnisse interessieren und einen Kulturkampf zwischen einer demokratischen säkularen Mehrheit und der aggressiven orthodoxen Minderheit, die ausgeprägten Rückhalt in Regierungskreisen genießt, konstatiert.

Obgleich die Ultraorthodoxen (auch Haredim genannt) nur rund acht Prozent der Gesamtbevölkerung stellen, übersteigt ihr Einfluß bei weitem diesen zahlenmäßigen Anteil an der Gesellschaft. Die geistigen Oberhäupter schicken ihre Anhänger zu den Wahlen, um ihre Ziele durchzusetzen, und zum Militär, um diesen zentralen Machtfaktor zu ihren Gunsten zu nutzen. Sie rufen zum Boykott staatlicher Programme auf, was allen Integrationsversuchen einen Strich durch die Rechnung macht, und Ultraorthodoxe gehören der Regierungskoalition an, deren Mehrheit sich einem Pakt mit Kräften verdankt, die man anderswo als rassistisch, volksverhetzend oder gar faschistisch bezeichnen würde.

Präsident Shimon Perez betont zwar zu Recht, daß es nicht die Gesamtheit der Haredim ist, die auf Geschlechtertrennung in Bussen oder auf Gehsteigen besteht, sondern eine Splittergruppe religiöser Fanatiker. Diese werden Sikarikim genannt und beanspruchen seit Jahren eine geistige Führungsrolle in Israel. Daß man ihnen bislang freie Hand gelassen hat und einige extremistische Rabbis sogar ungestraft die Auffassung verbreiten durften, Nichtgläubige hätten nicht den Status von Menschen und dürften unter bestimmten Umständen mit dem Segen Gottes getötet werden, kann indessen schwerlich mit einer Nachlässigkeit oder Fehleinschätzung erklärt werden.

Die nur eine halbe Autostunde von Tel Aviv entfernte Kleinstadt Beit Shemesh hat sich dank staatlicher Förderung zu einer Hochburg ultraorthodoxer Juden entwickelt. Jahrelang konnte der örtliche Bürgermeister in Kooperation mit dem ultraorthodoxen Wohnungsbauminister und Premierminister Benjamin Netanjahu 30.000 neue Wohneinheiten planen, von denen nur 2000 für gemäßigte Israelis bereitgestellt wurden. Die Stadt gleicht seit Jahren einem Pulverfaß, weil die Sikarikim selbst die übrigen Ultraorthodoxen immer wieder angreifen, die ihrer Meinung nach nicht religiös genug sind. [3]

Die von einer Minderheit der ultraorthodoxen Juden geforderte Geschlechtertrennung in der Öffentlichkeit stößt zunehmend auf Widerstand in der Bevölkerungsmehrheit. Wer wollte schon in einer Gesellschaft leben, in der Frauen vor den Synagogen auf die andere Straßenseite wechseln, in Bussen und Straßenbahnen hinten sitzen, sich im Supermarkt in getrennte Schlangen an die Kasse stellen und bei Wahlen getrennte Urnen benutzen müssen. Wer zu Recht den Rückfall in ein repressives Regime fürchtet, das zwei Klassen von Menschen durchsetzt, sollte allerdings mit seiner wohlfeilen Kritik nicht bei einer reaktionären Splittergruppe der Ultraorthodoxen stehenbleiben.

Zwei Klassen von Menschen mit verschiedenen Rechten und einer noch unterschiedlicheren Behandlung durch die Administration, Sicherheitskräfte, Wirtschaft und nicht zuletzt die jüdische Mehrheitsgesellschaft in ein und demselben Staat gibt es in Israel seit dessen Gründung vor über 60 Jahren. Die Diskriminierung und Unterdrückung der Frauen in ultraorthodoxen Kreisen anzuprangern und deren Einfluß auf die Gesellschaft zurückzudrängen wird erst glaubhaft, wo die alltägliche Drangsalierung der Palästinenserinnen und Palästinenser nicht länger ausgeblendet bleibt. Mit der Thematisierung des Konflikts zwischen den miteinander verschränkten Nachbarvölkern, der das Feld der Auseinandersetzung vollkommen auszufüllen und zu beherrschen scheint, ist die eigentliche Klassenfrage kapitalistischer Verwertung, die die israelische wie die palästinensische Gesellschaft gleichermaßen dominiert, noch gar nicht berührt. Ob es also nur demonstrative Krokodilstränen zur Versiegelung der herrschenden Verhältnisse sind, die man angesichts einer ultraorthodoxen Splittergruppe vergißt, oder dies der Beginn einer nicht mehr zu beschwichtigenden Streitbarkeit gegen menschenunwürdige Zustände ist, muß sich unterwegs erweisen.

Fußnote:

[1] http://www.zeit.de/politik/ausland/2012-01/israel-protest-ultraorthodoxe

[2] http://nachrichten.rp-online.de/politik/orthodoxe-juden-in-kz-kleidung-1.2658601

[3] http://www.tt.com/csp/cms/sites/tt/Nachrichten/4076923-2/nazi-vergleiche-israels-probleme-mit-radikalen-ultraorthodoxen.csp

2. Januar 2012