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KULTUR/0965: Kein Halten auf abschüssiger Bahn - Massensoma TV-Unterhaltung (SB)




Auch 30 Jahre nach Einführung des dualen Rundfunksystems Anfang Januar 1984 hält sich unter Kulturkritikern aller Couleur hartnäckig das Gerücht, daß der kulturelle Niedergang des Fernsehens mit dem Start der Privatsender nicht nur seinen Anfang nahm, sondern auch durch ihn begründet war. Das kann schon von daher nicht stimmen, als daß die gebührenfinanzierten öffentlich-rechtlichen Sender nicht dazu genötigt waren, ihren Informationsauftrag als Aufruf zur Massenbespaßung zu verstehen. Sie sind bis heute von dem ökonomischen Druck zur kommerziellen Finanzierung freigestellt, um nicht dem Quotenwettbewerb ausgesetzt zu sein, in dem sie 2013 mit den Rekordeinschaltzahlen bei Fußballspielen erfolgreich waren. Auch wenn sie sich nicht in aller Konsequenz in die Niederungen des Privatfernsehens begeben, so wird doch das Gros ihrer Mittel für Publikumsmagneten unterhaltsamer Art und nicht für Bildungssendungen, politische Dokumentationen oder kulturelle Minderheitenprogramme ausgegeben.

Was einst in gedeihlicher Zusammenarbeit zwischen der unionsgeführten Bundesregierung unter Helmut Kohl und dem Filmgroßhändler Leo Kirch seinen Anfang nahm, wartete schon bald mit Tabubrüchen und Provokationen auf, die den christlichen Wertekodex jener Politiker, die dem Privatfernsehen den Weg freimachten, gründlich unterminierten. Um so unglaubwürdiger waren die Bedenken, die im Unionslager gegen den panoptischen Sozialknast Big Brother, gegen die Mutation junger Menschen zu Hungerhaken und Ellbogenkarrieristen in Casting-Shows, gegen das als Internierungslager für gesellschaftliche Überlebenskämpfe inszenierte Dschungelcamp oder andere Formen des sogenannten Unterschichtenfernsehens erhoben wurden. Die im Schwange des aufkommenden Neoliberalismus erfolgte Öffnung des Rundfunks für marktwirtschaftliche Akteure zeitigte die zu erwartenden Ergebnisse menschlicher Niedertracht und verwandelte dagegen aufbegehrende Politiker in Karikaturen bigotter Widerspruchsregulation.

Die politische Entscheidung zur Kommerzialisierung des Rundfunks war nicht nur neoliberaler Privatisierungswut geschuldet, sondern erfolgte in der rationalen Absicht, jene verbliebene journalistische Unabhängigkeit, die etwa dem WDR den längst verwehten Ruf des "Rotfunks" eingebracht hatte, unumkehrbar zu beseitigen. Die in der BRD noch von linken Zwischentönen durchsetzte kulturelle Hegemonie sollte vollends der Dominanz von Kapitalinteressen weichen. Was für die christliberale Koalition ohnehin alleinseligmachend war und für die Sozialdemokratie immer mehr werden sollte, mündete in die praktische Widerlegung das Fantasmas bildungsbürgerlicher Autonomie zugunsten der kulturindustriellen Formierung der Marktsubjekte zu Adressaten herrschaftsförmiger Indoktrination. Das Privatfernsehen ist mithin nicht Urheber der Trivialisierung des TV-Entertainments und der unverdünnten Propagierung des neoliberalen Strukturwandels, sondern war als maßgeschneidertes Instrument hegemonialer Interessen in Staat und Gesellschaft schon lange vor seiner Einführung antizipiert. Daß sich ein globaler Medienkonzern wie Bertelsmann heute noch auf eine gründerzeitliche Ethik beruft, die seine RTL-Sendergruppe kaum spektakulärer in eine Freak Show menschlicher Verächtlichkeit verwandeln könnte, belegt die feudalkapitalistische Funktion einer Unterhaltungsware, die die Subjekte sozialer Verelendung gegeneinander aufhetzt, um jeden Gedanken daran zu tilgen, daß nur solidarischer Widerstand aus ihrer Misere befreien kann.

Der Erfolg des werbefinanzierten und damit irreführenderweise als Free-TV gelabelten Privatfernsehens wirkte sich derart rapide auf die Programmgestaltung von ARD und ZDF aus, als hätte man in den öffentlich-rechtlichen Anstalten nur darauf gewartet, einen Freibrief zur Produktion eines in Dauerrotation verfügbaren Somas für die Massen zu erhalten. Lag die Gestaltung der Fernsehprogramme schon zuvor nur sehr bedingt in den Händen um inhaltliche Vielfalt und Tiefe bemühter Funktionäre, die den Primat der Staatsräson souverän ignorierten, so brachen mit der Fixierung auf die Ware "Content" die letzten Dämme des journalistischen Anspruchs, herrschenden Interessen die Sicht von unten entgegenzuhalten oder die imperialistische Aneignung der Welt durch die Stimme von Krieg und Ausbeutung betroffener Bevölkerungen zu konterkarieren. Konsumiert wird, was gefällt, und das ist gerade nicht eine Kritik an kapitalistischen Verwertungspraktiken, die den Zuschauer mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert.

In einer TV-Realität, in der kritische Zwischentöne mit der Lupe zu suchen sind, Talkshows als Ersatzparlamente den rasanten Demokratieabbau verschleiern und das Blockbuster-Regiment nach Markterfordernissen am Reißbrett produzierter Hollywood-Ware die einst blühende Kultur des avantgardistischen europäischen Kinos verdrängt hat, wird denn auch kaum mehr daran erinnert, daß es einmal anders war. Heute steht das Fernsehen vor dem nächsten Innovationssprung in die multifunktionale Adressierbarkeit des Internets, und die meint nicht nur die allgegenwärtige Verfügbarkeit eines quasi unendlichen Programmangebots, sondern nicht minder die Einbindung des Publikums in das marktstrategische Kalkül Werbung und Content produzierender Akteure. Was Bertolt Brecht mit seinem emanzipatorischen Konzept vorschwebte, den Rundfunk von einem Distributions- in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln, soll auf brutalstmögliche Weise anhand der Reduktion des Zuschauers auf ein minutiös durchkalkuliertes Element multimedialer Tauschwirtschaft Wirklichkeit werden.

Wer sich als Medienschaffender unter diesen Bedingungen einbildet, sich nicht nach der Decke des Rentabilitätsprimats strecken zu müssen, sondern unpopuläre oder gar kapitalismuskritische Töne von sich geben zu können, darf die Austauschbarkeit seiner in enge Formatvorlagen gebannten Produktivität am eigenen Leib erleben. Was sich für die privatwirtschaftlichen Senderbetreiber in Euro und Cent rechnet, übersetzt sich im gebührenfinanzierten Rundfunk auf den bürokratischen Zwang, die eigene Unentbehrlichkeit durch die erfolgreiche Befriedung gesellschaftlicher Widersprüche zu legitimieren. 30 Jahre nach der Einführung des Privatfernsehens steht das Private selbst zur Disposition des kulturpolitischen Auftrags, letzte Reservate unberechenbarer Subjektivität und kulturellen Wildwuchses in die unhintergehbare Verwertbarkeit der Humanressource einzuspeisen.

3. Januar 2014