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KULTUR/0974: Meinungs- und Pressefreiheit wieder hoch im Kurs (SB)




Nimmt man die Aussagen führender Politiker der Bundesrepublik für bare Münze, dann brechen für alle Menschen, die gerne in Wort und Schrift Stellung zu gesellschaftlichen Widersprüchen aller Art beziehen, bessere Zeiten an. Meinungs- und Pressefreiheit stehen hoch im Kurs, und das nicht nur bei Joachim Gauck, dessen Präsidenschaft ohnehin unter dem Titel "Die Freiheit" steht und der anläßlich des Anschlags auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo noch einmal explizit zur Verteidigung der Pressefreiheit aufgerufen hat. Auch der Vorsitzende des Innenausschusses im Bundestag, Wolfgang Bosbach, setzt sich im Interview mit dem Deutschlandfunk [1] gleich dreimal für die Verteidigung der Meinungs- und Pressefreiheit ein. Das müßte eigentlich auch einen Sinneswandel in Hinsicht auf die Vorratsdatenspeicherung zur Folge haben. Sie bedroht den Quellenschutz von Journalisten massiv [2], und Bosbach ist einer der eifrigsten Fürsprecher dieses Instruments des Überwachungsstaates.

In Britannien wurden 2014 ohne Not die parlamentarischen Verfahrensbedingungen für den Notstandsfall in Kraft gesetzt, um in Rekordzeit ein Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung zu verabschieden, das auch Ärzte, Anwälte, Journalisten, Parlamentarier und Priester zu Zielen staatlicher Überwachung erklärt. Selbstverständlich genießt der Quellenschutz für Geheimdienste dort wie hierzulande das Privileg faktischer Unantastbarkeit, denn es sind eben diese Staatsschutzbehörden, die es auf die Verbindungsdaten von Berufen abgesehen haben, in denen für sie relevante Informationen auflaufen könnten. Informanten, deren Kenntnisse den antidemokratischen Charakter der Arbeit solcher Behörden öffentlich machen könnten, müssen befürchten, in der sogenannten vierten Gewalt des demokratischen Rechtsstaates keinen Ansprechpartner mehr zu haben, der repressive Praktiken der Exekutive in die öffentliche Debatte tragen kann.

Wenn die Freiheit von Wort und Schrift, wie nun lautstark verkündet wird, tatsächlich zum Kernbestand westlicher Werte gehören, dann dürfte es künftig nicht nur das Privileg großer Tageszeitungen von taz bis FAZ sein, unbeschadet vom Strafrecht zur Gewalt aufzurufen, indem etwa die Bombardierung jugoslawischer oder libyscher Städte gefordert oder das Führen grundgesetzwidriger Angriffskriege propagiert wird. Dann dürfte auch die Sperrung von der Bundesanwaltschaft als verfassungswidrig erachteter linksradikaler Webseiten nicht mehr möglich sein, dann könnten keine Haftstrafen gegen Menschen mehr erwirkt werden, die Zeitungen in der EU verbotener Parteien vertreiben. Es wäre auch politisch geboten, massiv auf den NATO-Partner Türkei einzuwirken, um dort inhaftierte Journalisten zu befreien, oder in Washington darauf zu drängen, daß der Quellenschutz für Journalisten in den USA endlich gerichtlich garantiert wird. Und nicht zuletzt müßte die Bundesregierung Edward Snowden Asyl anbieten und sich für Whistleblower wie Chelsea Manning oder Julien Assange einsetzen, anstatt deren Verfolgung zumindest mittelbar zu unterstützen.

Die Freiheit, die Gauck und Bosbach meinen, ist eben nicht die Freiheit derjenigen Menschen, die sich durch den Staat und das Parlament, das der Bundespräsident und der CDU-Abgeordnete repräsentieren, vertreten fühlen. Deren Freiheit endet, wie die Parole "Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit" seit jeher verkündet, dort, wo die Definitionshoheit des herrschenden Werteuniversalismus beginnt. Sich auf Gleichheit vor dem Gesetz zu berufen heißt auch anzuerkennen, daß der demokratische Rechtsstaat aus einer Interessenkonstellation entstanden ist, die zwar formalrechtliche Freiheiten aller Art gewährt, deren Durchsetzung aber von der Handlungsmacht der jeweiligen Akteure abhängig macht.

Allein die aus der weitreichenden Konformität journalistischer Arbeit mit den Interessen großer Akteure des Industrie- und Finanzkapitals geschöpfte Kapitalmacht führender Verlagskonzerne garantiert eine Verbreitung und Rechtssicherheit, von der tatsächlich unabhängige Publikationen nur träumen können. Daß die Rücksichtnahme auf Werbekunden und die Integration großer Medienunternehmen in das Geschäft von Staat und Kapital gleichzeitig verhindert, diese Rückendeckung auch für eine Kritik an herrschenden Verhältnissen in Anspruch nehmen zu können, die diesen Namen verdient, entspricht diesem Widerspruch aus formalrechtlicher Gleichstellung und materieller Ungleichheit.

Überprüft man den Gleichheitsanspruch auf seine Praxistauglichkeit, dann zeigt sich, daß er dem Gros der Bevölkerung vor allem die Freiheit zugesteht, sich der Vergleichbarkeit ihrer Arbeitskraft auf dem Markt der Lohnarbeit zu unterwerfen. Wer diese Ware anbietet, dem wird keinesfalls das Recht entzogen, seinen Privatbesitz nach Kräften zu mehren, ganz im Gegenteil. Das Ziel, die krasse materielle Ungleichheit auf diesem Weg zu überwinden, und die den meisten Menschen nicht gegebene Chance, es auch zu erreichen, ist die Basis einer anwachsenden Anhäufung von Werten, die gemeinhin als Wirtschaftswachstum bezeichnet wird. Dieses zu begünstigen und zu fördern, ist erklärtes Anliegen von Staat und Kapital, so wie es die politische Maxime der Exekutive ist, die Unantastbarkeit der dazu erforderlichen Voraussetzung materieller Ungleichheit durchzusetzen. Meinungs- und Pressefreiheit nicht im Grundsatz, sondern nach der Maxime ihrer Verträglichkeit mit dem Bestand herrschender Interessen zu verteidigen, ist daher folgerichtig und widersprüchlich zugleich.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/anschlag-auf-charlie-hebdo-klare-kante-gegen-extremismus.694.de.html?dram:article_id=308084

[2] https://netzpolitik.org/2013/sehr-geehrter-herr-bosbach-wir-erklaren-warum-vorratsdatenspeicherung-sehr-wohl-etwas-mit-uberwachung-zu-tun-hat/

Zum selektiven Charakter propagierter Meinungs- und Pressefreiheit siehe auch
KULTUR/0860: "Mut zur Freiheit" ... niemals ungeteilt, niemals unbewaffnet (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0860.html

9. Januar 2015


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