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KULTUR/0984: "Böhmermann-Affäre" - neue Helden, alte Ressentiments (SB)



Arm in Arm mit Frankreichs Präsident Francois Hollande und EU-Ratspräsident Donald Tusk marschierte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 11. Januar 2015 in Paris in Solidarität mit den Anschlagsopfern der Satirezeitung "Charlie Hebdo". "Je suis Charlie" - das unbedingte Eintreten für die Freiheit von Wort und Bild bedeutete auch, daß die Freiheit in Frankreich lebender Muslime, sich der nationalen Solidaritätsbewegung nicht anzuschließen und an Schweigeminuten in der Schule nicht teilzunehmen, als Gesinnungsdelikt unter dem Vorwurf der "Verherrlichung des Terrorismus" [1] kriminalisiert wurde. Die Karikatur, in der ein maghrebinischer Jugendlicher von einem Polizisten mit der Waffe an die Wand gedrückt wird, der auf sein Bekenntnis "Je suis Charlie" ungerührt "Moi aussi" antwortet, brachte den instrumentellen Charakter nationaler Solidarität treffend auf den Punkt staatspädagogischer Vereinnahmung.

Während die Regierung Frankreichs sich heute auf den am 13. November 2015 verhängten Ausnahmezustand beruft, der neben anderen Grundrechten die "Freiheit der Meinungsäußerung" nach Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) einschränkt, werden in anderen liberaldemokratischen Staaten wie den USA oder Großbritannien schon im Regelfall bloße Meinungsbekundungen strafrechtlich sanktioniert, wenn sie etwa Zustimmung zu aufstandsartigen Erhebungen oder anderen Formen sozialen Widerstands betreffen. Auch in der Bundesrepublik endet die Meinungsfreiheit dort, wo etwa ein Aufruf zur Gewalt unterstellt oder Sympathien für verbotene Organisationen bekundet werden. Wie schon das Repression im Namen der Freiheit gutheißende Leitmotiv des BRD-Staatsschutzdiskurses "Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit" besagte, gibt es keine Freiheit, die uneingedenk gesellschaftlicher und staatlicher Imperative absolut gesetzt werden kann. Dabei muß die Aufhebung der Legalität einer Meinung, die zum Verbrechen umdeklariert wird, weil sie sich gegen die erklärte Staatsräson richtet, keineswegs mit dem Verlust ihrer Legitimität einhergehen. Der Rechtshistoriker Giorgio Agamben betrachtet den im juridischen Sinne unauflöslichen Widerspruch der Aufhebung geltenden Rechts bei Bewahrung der herrschenden Rechtsordnung im Ausnahmezustand als konstitutives Fundament herrschender Verfassungswirklichkeit, die den Keim diktatorischer Entwicklung stets in sich trägt [2].

Dies in einer Debatte um die Freiheit von Wort, Bild und Schrift nicht mitzudenken, heißt sie von vornherein auf ein gesellschaftlich und rechtlich sanktioniertes Feld zu begrenzen, das etwa in der Ausweisung sogenannter Free Speech Zones an Universitäten, bei Parteitagen oder internationalen Gipfeltreffen in den USA konkret Gestalt annahm. Die selektive Praxis, der freien Rede bestimmte Ort oder Diskurse zuzuweisen und sie damit an anderer Stelle zumindest unter den Verdacht regel- und gesetzeswidriger Gesinnungsbekundungen zu stellen, blendet gesellschaftliche Widerspruchslagen und materielle Gewaltverhältnisse auf eine Weise aus, die bestimmte Positionen gar nicht erst in den Rang diskursrelevanter Beiträge kommen lassen soll. So muß, wenn wie im aktuellen Fall um die sogenannte Schmähkritik des ZDF-Moderators Jan Böhmernann am türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan das Recht auf Meinungsfreiheit in einer von Staatsinteressen hochgradig aufgeladenen Situation auf die Probe gestellt wird, die liberale Verabsolutierung dieses Rechtes nicht unbedingt von einem emanzipatorischen Anliegen getragen sein.

Indem die türkische Regierung die inhaltlich fundierte Kritik des satirischen Songs "Erdowie, Erdowo, Erdogan" der NDR-Sendung extra 3 am 17. März zum Anlaß für eine diplomatische Intervention nahm, versuchte sie, die im eigenen Land massiv unterdrückte Meinungs- und Pressefreiheit auch für ihre internationalen Beziehungen geltend zu machen. Anläßlich dessen legte Jan Böhmermann in der ZDF-Sendung Neo Magazin Royale am 31. März mit einem "Schmähgedicht" nach, dessen kritischer Gehalt, wenn überhaupt vorhanden, von sexistischen, im Höchstmaße beleidigenden und unschwer als antimuslimischer Rassismus zu identifizierenden Anwürfen überlagert war. Er tat dies erklärtermaßen, um Erdogan den Unterschied zwischen erlaubter Satire und verbotener, weil herabwürdigender Schmähkritik vor Augen zu führen. Für nur des Türkischen mächtige Zuschauer kam erschwerend hinzu, daß die Schmähungen mit türkischen Untertiteln versehen waren, die damit verbundene Absicht des Moderators jedoch nicht.

Indem er mehrfach darauf hinwies, daß die öffentliche Präsentation seines Gedichtes in Deutschland nicht erlaubt sei, riskierte Böhmermann, für das Begehen eines vorsätzlichen Rechtsbruchs, der denn auch mehrere Anzeigen zur Folge hatte, zur Verantwortung gezogen zu werden. Der Moderator provozierte mithin einen Skandal, dessen rechtliche Beilegung für die Bundesregierung in die eine oder andere Richtung von Nachteil sein wird. Bundeskanzlerin Angela Merkel, die 2010 bei einer Preisverleihung an den dänischen Karikaturisten Kurt Westergaard die Laudatio unter dem Titel "Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut" auf den Zeichner der Mohammed-Karikaturen hielt [4], ist zweifellos regierungspolitischer Opportunismus anzulasten, wenn sie zur Rettung der mit der Türkei ausgehandelten Flüchtlingsabwehr eher keinen Mut zur Freiheit beweist. Das ist jedoch kein Sonderfall staatlichen Krisenmanagements, sondern die Regel eines Regierungshandelns, dessen gesellschaftlicher Empörungshaushalt unverzichtbare Begleiterscheinung notwendiger Widerspruchsregulation ist. Daß das Wortgeklingel liberaler Freiheitsrhetorik der Befriedung herrschender Klassenwidersprüche in den Gesellschaften des neoliberalen Kapitalismus dient, ist als Malaise aller Diskursformationen, die von gleichermaßen ermächtigenden Rechtsverhältnissen ausgehen, auch wenn die an einem Konflikt beteiligten Akteure materiell höchst unterschiedlich bemittelt sind, seit jeher bekannt.

Doch derartige Probleme aufzugreifen, scheint nicht Sache eines Medienprofis zu sein, der in Anbetracht der exekutiven Ermächtigung der AKP-Regierung zur Mißachtung menschenrechtlicher Schutzgarantien nichts anderes zu bieten hat als die auf maximale Schadensbilanz abonnierte Inszenierung einer Beleidigungsarie. Daß Mathias Döpfner beim Lesen des seiner Ansicht nach "gelungenen" Gedichtes "laut gelacht" [5] hat, wie er in einer Solidaritätsbekundung an Böhmermann erklärt, verrät mindestens so viel über die politischen Absichten des Springer-Chefs, der seinerseits 2010 unter dem Titel "Der Westen und das höhnische Lachen der Islamisten" [6] eine neokonservative Kampfansage verfaßt hat, wie über seine ästhetischen Präferenzen.

Wenn Böhmermann die zutiefst notwendige Kritik an den repressiven und imperialen Ambitionen Erdogans wie auch dem Widerstand gegen die deutsche-türkische Kollaboration, die sich gleichermaßen gegen Kriegsflüchtlinge und die politische Opposition in der Türkei richtet, auf die Fallhöhe einer sympolpolitischen Skandalisierung hebt, dann dient er sich vor allem den Sachwaltern eines Krieges der Kulturen an, die es nicht nur in den Reihen des IS gibt. Der Beifall, den er als vermeintlicher Held des Kampfes für Meinungsfreiheit und gegen Zensur erhält, gilt nicht zuletzt den kulturalistischen Ressentiments, mit denen er aufwartet und die die Schmähungen rassistischer Feindseligkeit und sozialchauvinistischer Verachtung weiter anheizen. Die Bereitschaft, sich mit einer Kritik in die Nesseln zu setzen, die Mut zur Parteinahme für gesellschaftliche Verlierer und ausgegrenzte Minderheiten erfordert, fehlt dem öffentlich-rechtlichen Hofnarren ebensosehr wie den Betreibern einer massenmedialen Heldenmaschine, die für die soziale Sicherheit ihrer Akteure weitgehend folgenlose Tabubrüche abfeiert.


Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/schulspiegel/ausland/charlie-hebdo-anschlaege-schueler-in-frankreich-stoeren-gedenkminuten-a-1013015.html

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/buch/sachbuch/busar216.html

[3] http://uebermedien.de/3736/boehmermanns-satireschmaeh/

[4] KULTUR/0860: "Mut zur Freiheit" ... niemals ungeteilt, niemals unbewaffnet (SB)
http://schattenblick.org/infopool/politik/kommen/sele0860.html

[5] http://www.welt.de/debatte/kommentare/article154171281/Solidaritaet-mit-Jan-Boehmermann.html

[6] http://www.welt.de/debatte/article11148187/Der-Westen-und-das-hoehnische-Lachen-der-Islamisten.html

12. April 2016


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