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KULTUR/1007: Mit postfaktischen Argumenten in den präventiven Maßnahmestaat (SB)



"Postfaktisch" sind die Zeiten nicht erst, seit den Menschen unterstellt wird, sich bei ihrer Ermächtigung zu Nachrichtenproduzenten in eigener Sache an der Wahrheit zu vergreifen. Journalistische Berichterstattung lebt nicht anders als ideologische Indoktrination von Unterschlagung und der daraus resultierenden Produktion irreführender Schlußfolgerungen. Was alles weggelassen wird kann von besonderer Aussagekraft sein, doch setzt das die fundierte, auch theoretische Analysen und ideologische Begründungen nicht auslassende Auseinandersetzung mit den herrschenden Verhältnissen voraus. So wird wie selbstverständlich unterstellt, bei der Abwehr terroristischer Bedrohungen, selbst wenn sie zur Einschränkung bürgerlicher Freiheiten führt, ginge es darum, Leib und Leben der Bevölkerung zu schützen.

Wäre dem so, dann böten die vielfältigen todbringenden Folgen der herrschenden industriellen Produktionsweise und ihrer wertschaffenden Logik Anlaß nicht nur zur Skandalisierung, sondern Überwindung dieser Bedingungen. Feinstaub aus Dieselmotoren, Kohlekraftwerken und Industrieanlagen, multiresistente Keime, die bei der Haltung sogenannter Nutztiere entstehen, physisch wie psychisch destruktive Arbeitsbedingungen und Lebensmittel aller Art, die sogenannten Nebenwirkungen pharmazeutischer und agrarindustrieller Mittel, Giftstoffe absondernde Plastikflaschen und Hygieneartikel ... die krankmachenden und todbringenden Bedingungen der kapitalistischen Reichtumsproduktion sind Legion. Ihre imperialistischen Voraussetzungen bei der Ausbeutung natürlicher Ressourcen wie auch menschlicher Arbeitskraft in weniger produktiven und daher zur billigen Zuarbeit zur hiesigen Kapitalakkumulation genötigten Gesellschaften sind in dieser Aufstellung noch gar nicht inbegriffen. Das gilt auch für die nicht wirklich ernstgenommene Verhinderung eines Klimawandels, dessen Folgen menschliches Leben in großen Regionen dieser Welt unmöglich machen wird. 60 Millionen flüchtende Menschen weltweit, 5000 davon allein 2016 im Mittelmeer elendiglich ertrunken - künftige Verwüstungen werfen ihre Schatten voraus und verwandeln die Komfortzonen der hochproduktiven Metropolengesellschaften in Trutzburgen des keineswegs nur aus ideologischen Gründen verteidigten imperialen Lebensstils.

All das wird nicht erwähnt, wenn terroristische Anschläge zum Anlaß genommen werden, die konstitutionellen Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft in Frage zu stellen und den in den Sozialwissenschaften längst konstatierten Zustand postdemokratischer Herrschaftsausübung überzuerfüllen. Die von Bundespräsident Gauck aufgemachte Gleichung, der Terror richte sich gegen unsere Freiheiten, erfüllt nicht einmal den Mindeststandard einer begrifflichen Präzision, die zur weiteren Untersuchung des Problems einlüde. Dieser formelhaften, von vielen Politikern und Journalisten verwendeten Dichtomie liegt nichts anderes als die quasireligiöse Doktrin eines Kampfes zwischen gut und böse zugrunde. Selbst wenn in diesem Kontext von Menschenrechten und Entfaltungsfreiheit gesprochen wird, handelt es sich um bloße Behauptungen, wie etwa die enge Zusammenarbeit der Bundesregierung mit der bürgerliche Rechte und Freiheiten aller Art mißachtenden AKP-Regierung in der Türkei belegt, um nur ein Beispiel von vielen zu nennen.

Im Kern wird die Freiheit schrankenloser Kapitalverwertung im Rahmen einer internationalen Krisenkonkurrenz propagiert, in der die Zurichtung der eigenen Bevölkerung auf dieses Staatsziel hin und seine äußere Durchsetzung, die im Zweifelsfall mit kriegerischer Gewalt vollzogen wird, einander wechselseitig bedingen. Die Schäden und Verluste, die mit der privatwirtschaftlichen Eigentumsordnung und ihrer staatlichen Deckung einhergehen, werden bestenfalls als unvermeidliche Verschleißerscheinungen anerkannt, aber nicht denjenigen in Rechnung gestellt, die damit ihr Geschäft machen. Die teuren Folgen atomarer Energieerzeugung oder zusammengebrochener Banken, die Inkaufnahme schlechter Nahrungsmittel und mit Schadstoffen belasteten Wassers, die Verschlechterung des durchschnittlichen Lohnniveaus und der Arbeitsbedingungen - für diese Freiheit haben diejenigen zu zahlen, die bereits mit Haut und Knochen in die Fabrik gesellschaftlicher Reichtumsproduktion eingespeist werden.

All das wird nicht in Rechnung einer Faktizität gestellt, deren Mißachtung lautstark von denjenigen beklagt wird, die ihr journalistisches Gewerbe im Vollzug neoliberaler Marktwirtschaft und imperialistischer Staatsräson betreiben. Der Vorwurf der Lüge kann die Totalität, mit der diese Ratio bis in die kleinste Einheit sozialer Reproduktion durchdekliniert wird, nicht fassen, weil er sich selbst einem Wahrheitsanspruch unterwirft, den zu verwirklichen eine Macht- und keine Rechtsfrage ist. Die Faktizität, die Politiker und Presseleute meinen, wenn sie deren Verfall beklagen, betrifft die ausschließlich empirische, von den apparativen Voraussetzungen großer Verlagskonzerne und gebührenfinanzierter Sender abhängige Informationsproduktion. Die dabei propagierte Sachlichkeit ist geradewegs darauf angelegt, den Schritt vom Besonderen ins Allgemeine tunlichst zu unterlassen, könnte sich doch zeigen, daß jede noch so detaillierte Fakteninformation ohne den Kontext ihrer gesellschaftlichen und politischen Bedingungen frei von jeder Erkenntnis ist, die den Menschen befähigt, über sein eigenes Leben zu bestimmen.

Trägt der Vorwurf postfaktischer Argumentation schließlich zum Ergreifen exekutiver Maßnahmen wie etwa der Zensur bestimmter Webseiten oder der Bestrafung des Verbreitens irreführender Informationen bei, dann schlägt die Praxis, auf einer von gesellschaftlichen Widerspruchslagen bereinigten Faktizität zu bestehen, in die Etablierung einer Wahrheitsnorm um, die wie jede Glaubenslehre der apologetischen Abwehr konkurrierender Positionen bedarf. Werden analog dazu Menschen lediglich aufgrund ihrer Gesinnung als potentielle Terroristen verfolgt, dann zeigt sich, daß der Glaube an die Wahrheit nicht im luftleeren Raum abstrakter Beliebigkeit stattfindet, sondern einer administrativen Präventionslogik von fataler Konsequenz Raum gibt. Spätestens dann, wenn die Verteidigung der Freiheiten, die Gauck und andere meinen, den autoritären Maßnahmestaat auf den Plan ruft, wie den aktuellen Vorschlägen zur Einschränkung bürgerlicher Grundrechte zu entnehmen ist, könnte vielen Menschen schwanen, daß ihre Wahrheiten, um welche auch immer es sich handeln mag, im Kampf um gesellschaftliche Hegemonie gegenstandslos sind, solange sie nicht über die Mittel zu ihrer Durchsetzung verfügen.

31. Dezember 2016


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