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KULTUR/1008: Wenn die Leitkultur durch Mark und Bein geht ... (SB)



Es geht um mehr als die Wurst, wenn der CSU-Politiker Christian Schmidt in seiner Eigenschaft als Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft untersagen will, diese Produktbezeichnung auch für fleischfreie Nahrungsmittel zu verwenden. Als seien die Liebhaber fleischlicher Genüsse nicht in der Lage, als vegetarisch oder vegan ausgewiesene Alternativen zu Wurst, Schnitzel und Frikadelle von dem Produkt ihrer Wahl zu unterscheiden, dürfe niemand "bei diesen Pseudo-Fleischgerichten so tun, als ob es Fleisch wäre" [1], so der Minister. Schmidt ist es zudem ein wesentliches Anliegen, daß Kinder auf den Verzehr von Fleisch im allgemeinen und Schweineprodukten im besonderen konditioniert werden [2]. Der Jurist, der vor seinem Amtsantritt 2014 vor allem im Bereich der Verteidigungspolitik tätig war, kann mithin als Exponent eines Kulturkampfes gelten, bei dem die Gleichbehandlung unterschiedlicher Verbraucherinteressen kleingeschrieben wird.

Dabei hätte er mehr als genug zu tun, wenn es denn um Klarheit und Wahrheit im Lebensmittelgeschäft ginge. So ist sein Ministerium auch für die Umsetzung der EU-weiten Lebensmittelinformations-Verordnung (LMIV) zuständig, die große Lücken bei der Kennzeichnung der Inhaltsstoffe von Lebensmitteln läßt. Auch diese 2014 in Kraft getretene Maßnahme zur Präzisierung der Angaben, mit denen den Menschen vorgegaukelt wird, das Industrieprodukt im Supermarktregal habe noch irgend etwas mit klassischen landwirtschaftlichen Rohstoffen und Herstellungsprozessen zu tun, läßt der Nahrungsmittelindustrie viel Spielraum, die unappetitliche Wirklichkeit der Produktion hinter suggestiven Bildern, euphemistischen Attributen wie "Gesundheit" oder "Fitneß" oder nichtgenannten Grundsubstanzen lebensmitteltechnischer Anwendungen zu verbergen [3]. Wo Paradebeispiele für im Wortsinn irreführende Namen für Fleischprodukte wie "Leberkäse", "Bärchenwurst" oder "Fleischpflanzerl" belegen, daß Produktbezeichnung und Inhaltstoffe nicht unbedingt übereinstimmen müssen, wo Fruchtjoghurts bis auf eine Alibibeere vor allem aus Zucker und künstlichen Geschmackstoffen bestehen können oder "Kalbsleberwurst" vor allem aus der Leber und dem Fleisch anderer Tiere hergestellt wird, wirkt der Vorstoß Schmidts denn auch wie ein Ausfall gegen eine bestimmte, Fleisch- oder Tierprodukte nicht mehr verspeisende Gruppe von Menschen.

So banal und nebensächlich dieser Namensstreit zu sein scheint, ist er doch symptomatisch für die Verteidigung einer Landwirtschaft, die im Bereich der Tierzucht immer produktiver wird, ohne den dabei entstehenden Folgen wie der abnehmenden Fruchtbarkeit der Agrarflächen und Qualität des Trinkwassers, der den Klimawandel beschleunigenden Aufheizung der Atmosphäre, der schmerzhaften Existenz und kurzen Lebensdauer der sogenannten Nutztiere, der drastisch abnehmenden Biodiversität und der durch Pestizide, Antibiotikaresistenzen und anderweitig kontaminierte Lebensmittel belasteten Gesundheit der Menschen im Wortsinne Rechnung zu tragen. Der von Schmidt betriebene Kulturkampf ist denn auch lediglich die Chiffre für einen Raubbau, der neben dem sogenannten Schlachtvieh vor allem zu Lasten von Milliarden Menschen geht, die noch nie satt geworden sind oder aufgrund einseitiger Mangelernährung an "innerem Hunger" nach essentiellen Vitalstoffen leiden.

Würden die sozialen und ökologischen Belastungen, die nicht nur hierzulande entstehen, sondern überall auf der Welt, wo Futtermittel für den europäischen Tierverbrauch angebaut werden und hochsubventionierte Produkte EU-europäischer Herkunft lokale Märkte zerstören, beim Verkauf von Tierprodukten eingepreist, dann wäre der tägliche Konsum von Fleisch und Milch hierzulande nur noch Wohlhabenden möglich. Der Markt, der angeblich alles zum Wohle aller reguliert, erweist sich auch hier als Medium einer geldvermittelten Überlebenskonkurrenz, deren staatliche Regulation dafür Sorge trägt, daß der Preis der Arbeit in dieser Gesellschaft niedrig genug bleibt, um die soziale Reproduktion ebenso zu gewährleisten wie die Abschöpfung des Mehrwertes als kapitalistische Voraussetzung jeglicher Wettbewerbsfähigkeit. Das Reizwort von der Massentierhaltung suggeriert zwar, daß Tier- und Menschenwohl allemal durch die Besinnung auf traditionelle bäuerliche Wirtschaftsweisen Genüge getan wäre. Doch dabei wird die Rechnung ohne den Wirt des Standortes Deutschland in der globalen Krisenkonkurrenz gemacht.

Dort weiterhin als Exportland Nummer eins, das derzeit sogar einen größeren Handelsüberschuß als China erwirtschaftet, aufzutreten setzt eine Arbeitsgesellschaft voraus, deren Insassen nicht nur mit den klassischen Disziplinierungsmitteln der Fließbandarbeit am Band ihrer Verfügbarkeit gehalten werden können. Die von wenigen Großunternehmen dominierte deutsche Tierindustrie erzeugt nicht nur Nahrungsmittel, sondern ihre Rohstoffe sind in zahlreichen Produktpaletten vertreten, in denen die Abfälle der Schlachthöfe weiterverwertet werden. Sie gewährleistet in Zusammenarbeit mit einer Veterinärmedizin, ohne die die hygienischen Zustände in den Mastställen und die krankmachenden Folgen der Hochleistungszüchtung nicht beherrscht werden könnten, eine Lebensqualität, die allen Klagen über die Massentierhaltung zuwider mehrheitlich gerne in Anspruch genommen wird.

Da die Verfügbarkeit kostengünstiger Tierprodukte mindestens so erschwinglich ist wie die einer vollwertigen Ernährung auf pflanzlicher Basis, ist letztere insbesondere für Menschen mit geringem Einkommen weit schwieriger zu realisieren als die traditionell übliche und auch im diätetischen Bereich vorrangige Ernährungsweise mit Milch, Eiern und Fleisch. Die in sehr viel geringerem Maße verbreitete Vorliebe, sich auf pflanzlicher Basis zu ernähren oder zumindest keine Schlachtprodukte zu verzehren, ist dennoch häufig genug Gegenstand erregter Debatten um das Für und Wider des Vegetarismus und Veganismus. Zwar handelt es sich bei der Vorstellung, der Konsument entscheide an der Kasse über die Produktion, um einen Mythos, der die kapitalistische Verwertungslogik ebensowenig in Betracht zieht wie die staatliche Regulation und werbetechnische Manipulation des Konsums. Dennoch wird die bloße Möglichkeit, sich an Tierausbeutung so weit wie möglich nicht mehr zu beteiligen, vom tierindustriellen Komplex aus Staat und Kapital als Bedrohung wahrgenommen, könnte doch das Ensemble sozialer Widerspruchslagen, das mittellose und lohnabhängige Menschen so sprachlos macht, vielleicht gerade an dieser Stelle zum offenen Widerstand aufbrechen.

Politische Entscheidungen wie das Verbot, milchähnliche Produkte aus Pflanzen als "Milch" bezeichnen zu dürfen, die Besteuerung dieser "Drinks" mit dem vollen Mehrwertsteuersatz von 19 anstatt, wie für das Gros der Nahrungsmittel, von 7 Prozent oder die Begünstigung tierproduzierender Landwirtschaftsbetriebe bei Subventionen und ökologischen Ausnahmeregelungen sind Symptome einer Bevorzugung, dergegenüber die ökologisch sinnvolle Förderung etwa des Anbaus eiweißhaltiger Feldfrüchte wie Lupinen oder anderer zur Wiederherstellung degenerierter Böden nützlicher Produktionsweisen wie bioveganer Landbau weit zurückfallen. Vor dem Hintergrund des Vorhabens, fossile Energieerzeugung absehbar durch erneuerbare Energieträger abzulösen, erinnert die Kultur des vorrangigen Fleisch- und Milchkonsums an die Verbrauchsphilosophie des Fossilismus - um schnelle Verfügbarkeit, hohe Leistungsdichte, große Reichweiten sowie maximale Wertsteigerung sicherzustellen, werden in Jahrmillionen sedimentierte Verfallsprodukte bioorganischen Lebens in wenigen Jahrzehnten verheizt, als ob es kein Morgen gebe.

Stellt sich das menschliche Tier auf den Standpunkt der Solidarität mit den anderen Tieren und gibt sich dementsprechend Mühe, diese so wenig wie möglich zu schädigen, dann rennt der Minister, der den Fleischverzehr - vergleichbar mit den sich christlich gebenden Verteidigern des Abendlandes gegen den Islam - wohl als eine Art deutsche Leitkultur begreift, Türen ein, hinter denen sich niemand verbirgt. Sogenannte Ersatzprodukte für Fleisch und Milch künden davon, daß Verzicht um der guten Sache willen geleistet wird. Wer sich tatsächlich aus moralischen Gründen zum Verzicht genötigt fühlt, anstatt pflanzliche Kost in ihrer Fülle zu genießen oder einfach nur den eigenen Wünschen zu folgen, sollte dies vielleicht noch einmal überdenken. So werden die von Schmidt gegen ihre Verpflanzlichung verteidigten Würste, Frikadellen und Schnitzel häufig von den großen Konzernen der Tierindustrie auf vegetarisch getrimmt. Sie erweitern ihr Sortiment mit Ersatzprodukten von ernährungsphyiologisch häufig minderwertiger Qualität, die zudem meist Ei enthalten, so daß das Kerngeschäft des Tierverbrauchs ungehindert weitergehen kann. Auch aus diesem Grund wird an der Supermarktkasse wenig Einfluß auf eine industrielle Produktionsweise und kapitalistische Eigentumsordnung genommen, die es in erster Linie zu verändern gilt.

Schuldgefühle oder ein schlechtes Gewissen sind bewährte Herrschaftsinstrumente, für die ansprechbar zu sein nichts anderes bedeutet als am großen Fressen teilzuhaben und gleichzeitig die Nase darüber zu rümpfen. Wer sich im Brustton der Überzeugung, es gebühre dem Manne, zu jagen und sein Rindersteak blutig zu essen, zum deftigen Fleischverzehr und seinen maskulinen Ritualen bekennt, ist zumindest darin konsequent, alles von sich zu weisen, was ihn an die Verletzlichkeit der eigenen Existenz und die Unteilbarkeit des Schmerzes erinnern könnte.

Das in moralischen Imperativen enthaltene Moment des Zwanges kann nur weitere Zwangsverhältnisse wie etwa den vielgeschimpften "Veggie Day" der Grünen erzeugen. Dieser Vorschlag hat dem Kampf gegen Tierausbeutung einen schlechten Dienst erwiesen, weil staatliche Bevormundung an die Stelle schlichter Prinzipientreue tritt. In der unreflektierten Ratio des Teilens und Herrschens sind sich ein Christian Schmidt und eine Renate Künast vielleicht näher, als beiden lieb wäre. Sich darauf zu besinnen, daß die herrschenden Gewaltverhältnisse menschliche wie nichtmenschliche Tiere gleichermaßen betreffen und dementsprechend zu überwinden sind, hat mit der schuldgetriebenen Moral einer Gesellschaft, in der sich beim Verzehr der Schlachtplatte mit großer Empathie über die Verbesserung des Tierwohls durch neue Tötungsmethoden räsonieren läßt, nichts zu tun.


Fußnoten:

[1] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-12/agrarminister-christian-schmidt-kennzeichnung-vegetarische-produkte

[2] http://www.spiegel.de/wirtschaft/service/bundesagrarminister-christian-schmidt-waermt-schweinefleisch-debatte-wieder-auf-a-1127707.html

[3] https://www.foodwatch.org/de/informieren/werbeluegen/mehr-zum-thema/kennzeichnungsverordnung/

3. Januar 2017


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