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KULTUR/1033: USA - Front entlang der Armutsgrenze ... (SB)



Hegel wußte schon vor 200 Jahren, worauf es in der schulischen Erziehung ankommt. 1820 dekretierte er in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, daß ein Hauptmoment der Erziehung in der Zucht bestehe, "welche den Sinn hat, den Eigenwillen des Kindes zu brechen, damit das bloß Sinnliche und Natürliche ausgereutet werde". Die auf hartes Disziplinarregime setzende Pädagogik der Aufklärung hatte als ihr Ziel ausgewiesen, der Vernunft auch mit Gewalt zur Geltung zu verhelfen und mit Stumpf und Stiel auszurotten, was dem humanistischen Anliegen an Wildwuchs aus sinnlichen Sensationen und körperlichen Empfindungen entgegenstehen könnte. Was in den Jahren fundamentaler Kritik an den Konzepten autoritärer Zurichtung Heranwachsender an die Bedürfnisse der kapitalistischen Gesellschaft unter dem Schlagwort "schwarze Pädagogik" bekannt wurde, blieb trotz begründeter Einwände gegen die Verherrlichung der Vernunft als staats- wie überhaupt bürgerliche Tugend auf einen kleinen Kreis intellektueller SchulkritikerInnen beschränkt.

Heute könnte man zu der Auffassung gelangen, daß die Amputation kindlicher Neugier und Entdeckerlust im Namen der Vernunft beste Voraussetzungen für die programmatische Konditionierung der Jugend auf die Anforderungen der kapitalistischen Leistungsgesellschaft geschaffen habe. Vernünftig ist, wer frühzeitig die Lektion der Überlebenskonkurrenz verinnerlicht, wer sich auch unter Qualen anpaßt, um weiterzukommen, wer die Mitschülerin nicht abschreiben läßt, um selber besser dazustehen, wer die sozialen Bruchlinien, die über Verelendung oder Erfolg entscheiden, so früh wie möglich erkennt und für die eigenen Zwecke nutzt. Ganz und gar unvernünftig ist, wer nicht einsieht, auf der falschen Seite der Straße geboren zu sein, nicht über die elaborierte Sprachkultur weißer Mittelschichtseltern zu verfügen, bei Klamotten und Gadgets nicht mit den Kindern reicher Eltern mithalten zu können, und sich auf streitbare Weise mit den Verhältnissen anlegt.

Doch junge Menschen müssen nicht einmal aufbegehren, um ins Visier eines repressiven Zurichtungsregimes zu geraten, dem das privatwirtschaftliche Eigentumsrecht alles und menschliche Solidarität nichts ist. Es reicht die Zugehörigkeit zur afroamerikanischen Minderheit, um in einer weißen Mehrheitsgesellschaft wie den USA mit weit größerer Wahrscheinlichkeit arm zu bleiben, in den Knast gesteckt oder von der Polizei erschossen zu werden. Durchschnittlich drei Schwarze täglich fallen schießwütigen PolizistInnen in den USA zum Opfer, aber es sind auch ganz normale Bürger, denen der Finger am Abzug juckt, wenn sie einen schwarzen Jugendlichen im Hoodie sehen. Sie gehören zur Kerngruppe derjenigen, die delinquente Härtefälle für jede pädagogische oder strafrechtliche Maßnahme in die Kategorie des jugendlichen "Superpredators" fassen. Der von John J. DiIulio Jr., einem Politikwissenschaftler und Regierungsbeamten unter US-Präsident George W. Bush, geprägte Begriff des "Superraubtiers" betraf, so seine Zuschreibung "radikal impulsive, brutal reuelose Jugendliche, zu denen immer mehr Jungen kindlichen Alters zählen, die morden, überfallen, vergewaltigen, rauben, plündern, mit tödlichen Drogen handeln, sich schußwaffenbewehrten Gangs anschließen und ernsthafte Störungen der Gemeinschaft bewirken."

Was nicht nur sozialreaktionäre RepublikanerInnen, sondern auch DemokratInnen wie Hillary Clinton mit quasi biologistischem Wahrheitsanspruch als eine von Kindern und Jugendlichen ausgehende gefährliche Bedrohung der Gesellschaft an die Wand malten, hatte zahlreiche Todesopfer unter den meist schwarzen Jugendlichen zur Folge. Sie gerieten ins Fadenkreuz von polizeilichen wie kommunalen Sicherheitsstrategien, auch wenn sie keine Waffen trugen, nicht mit Drogen dealten und keiner Gang angehörten. So wurde der 17jährige Trayvon Martin 2012 in Florida von einem weißen Mann erschossen, nur weil er in dieses Klischee paßte. Der Täter, der eine Nachbarschaftspatrouille in einer Gated Community in Sanford befehligte, erschoß den unbewaffneten Jugendlichen angeblich in Notwehr, die ihm letztlich gerichtlich attestiert wurde, so daß er straffrei ausging.

Nun hat das Abgeordnetenhaus von Florida eine Gesetzesvorlage durchgewinkt, die LehrerInnen gestattet, eine scharfe Schußwaffe beim Unterricht mit sich zu führen. Schußwaffen für das Lehrpersonal ist eine seit langem erhobene Forderung der US-Waffenlobby, die in Florida erstmals verwirklicht werden soll. Zwar sollen die einzelnen Schulbezirke selbst entscheiden, ob sie zu dieser Maßnahme greifen wollen, doch 25 der 67 Bezirke des US-Bundesstaates haben sich bereits positiv zu dem neuen Disziplinarmittel gestellt. Um ein solches handelt es sich, auch wenn die Pistole oder der Revolver nicht sichtbar getragen wird. Allein zu wissen, daß das Lehrpersonal zur Schußwaffe greifen kann, verändert die Beziehungen zwischen SchülerInnen und LehrerInnen fundamental. Der Verweis auf die immer wieder vorkommenden Schulmassaker, mit denen die Maßnahme begründet wird, ändert nichts daran, daß mit dem Einsatz potentieller Waffengewalt gegen SchülerInnen einer Gesinnung entsprochen wird, laut der es dem Menschen prinzipiell nicht möglich ist, einen gewaltfreien Umgang mit seinesgleichen zu pflegen.

Da es jedoch meist SchülerInnen aus der schwarzen Community sind, die aufgrund ihrer Dreadlocks, ihrer Vorliebe für aggressiven HipHop und ihrer von den Straßen des Ghettos geprägten Umgangsformen in die Analyseraster weißer Sozialpathologien passen, sind sie auch mehr als andere in Gefahr, vom Lehrpersonal im Unterricht oder in den Pausen auf dem Schulgelände in vermeintlicher Selbstverteidigung erschossen zu werden. Selbst wenn es zuträfe, daß sie untereinander in Bandenkriegen verwickelt sind, bleibt die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung für das Aufwachsen von Kindern unter Umständen, unter denen sie sich schon in jungen Jahren gegenseitig erschießen, weiterhin ungestellt. Indem Schulen, was die langfristige Konsequenz eines auf Waffengewalt setzenden Sicherheitsdenkens ist, in Hochsicherheitstrakte verwandelt werden, dürften sich auch die darin entstehenden Sozialkulturen der brutalen Wirklichkeit in US-amerikanischen Knästen annähern.

Die Vorstellung, es könne Möglichkeiten geben, positiven Einfluß auf Heranwachsende zu nehmen, anstatt sie so effizient wie möglich zu unterdrücken und auf Unterwerfung zu konditionieren, wurde offensichtlich erfolgreich überwunden. Was bleibt, ist der soziale Krieg, zu dem auch in den Klassenzimmern aufgerüstet wird. Da die Verhältnisse unter Erwachsenen die Feindseligkeit unter Kindern und Jugendlichen verschärfen und nicht umgekehrt, liegt es nahe, die Entstehung sogenannter Superraubtiere auf dem Hochsitz erwachsener Vernunft und nicht im Unterholz jugendlicher Verwirrung zu verorten.

6. Mai 2019


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