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KULTUR/1057: Soziale Distanz - Perspektive einer neuen Gesellschaft ... (SB)



Dieser geschlossene, parzellierte, lückenlos überwachte Raum, innerhalb dessen die Individuen in feste Plätze eingespannt sind, die geringsten Bewegungen kontrolliert und sämtliche Ereignisse registriert werden, eine ununterbrochene Schreibarbeit das Zentrum mit der Peripherie verbindet, die Gewalt ohne Teilung in einer bruchlosen Hierarchie ausgeübt wird, jedes Individuum ständig erfaßt, geprüft und unter die Lebenden, die Kranken und die Toten aufgeteilt wird - dies ist das kompakte Modell einer Disziplinierungsanlage. Auf die Pest antwortet die Ordnung, die alle Verwirrungen zu entwirren hat: die Verwirrungen der Krankheit, welche sich überträgt, wenn sich die Körper mischen, und sich vervielfältigt, wenn Furcht und Tod die Verbote auslöschen.
Michel Foucault - Überwachen und Strafen [1]

Anderthalb bis zwei Jahre müsse das Social Distancing aufrechterhalten bleiben, um eine möglicherweise massive 2. Welle von Neuinfektionen zu vermeiden. Schon jetzt erinnert vieles der neu in die Gesellschaft eingezogenen Trennlinien an das Paradigma der Foucaultschen Disziplinargesellschaft, das der Soziologe am Beispiel der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pest entwickelt hat. An die Stelle des hochdynamischen und fluiden Charakters einer von physischer Mobilität und ökonomischer Zirkulation bestimmten Weltgesellschaft ist der mehr oder minder scharf definierte Lockdown getreten. Die Bewegungsmöglichkeiten der Menschen werden im Maximalfall auf die Wohnung, völlig unabhängig von deren Beschaffenheit, reduziert. Freiheit erhält plötzlich eine ganz materielle, in Quadratmetern zu beziffernde Bedeutung. Der Inbegriff des liberale Gesellschaften auszeichnenden Privilegs, den öffentlichen Raum nach Belieben begehen zu können, kollabiert auf das verbliebene Minimum an konsumistischer Freiheit, zwischen diesem oder jenem Konsumgut und Unterhaltungsangebot wählen zu dürfen.

Dieser Zustand ist insbesondere in den Metropolen, wo dem größeren Teil der Menschen nur kleine Wohnkonserven zur Verfügung stehen, die als Orte der Reproduktion ihrer Arbeitskraft, nicht jedoch als Lebensraum Sui generis gedacht sind, nur sehr befristet durchzuhalten. Die nun diskutierten Maßnahmen zur schrittweisen Aufhebung der gegen die Verbreitung von COVID-19 gerichteten Maßnahmen sind mithin nicht nur der Notwendigkeit der Wiederaufnahme wirtschaftlicher Produktion geschuldet, sondern schon zur Vermeidung des massenhaften Auftretens von psychischen Krisen und physischen Aggressionen unabdinglich. So sehr die Marktsubjekte auf den Wechsel von fremdbestimmter Lohnarbeit und sozialer Reproduktion ihrer Arbeitskraft zu reduzieren sind, so schwerwiegend können die Konsequenzen der Einengung jener Zwischenräume sein, an denen der Unterschied zwischen einem auf bloßes Funktionieren getrimmten Roboter und selbstbestimmt handelnden Individuum festgemacht wird.

Das möglicherweise folgenreichste Ergebnis einer nur wenige Wochen anhaltenden Quarantäne könnte darin bestehen, daß auf sich selbst zurückgeworfene Menschen an einer Sinnfrage scheitern, die sich aus dem Inventar des ihnen vertrauten Lebens nicht beantworten läßt, weil dessen von den Zwecken und Zielen der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft bestimmter Charakter nichts erkennen läßt, was Aufschluß über eine darüber hinausweisende Identität gäbe. Selbst Familie oder Partnerschaft als Keimzelle gesellschaftlicher Reproduktion gehen häufig nicht unbeschadet aus einer Situation hervor, in der die vertrauten Ausweichmanöver und Fluchträume verschlossen bleiben. Häusliche Gewalt kann monströse Ausmaße annehmen, wenn das ganze Elend der in der Zwangspause gezogenen Zwischenbilanz auf den anderen projiziert wird.

Sich nicht selbst auf die Spur zu kommen und dabei Fragen zu entwickeln, die den Horizont systematischer Befriedung und systemopportuner Identitätsfindung überschreiten, ist denn auch wesentlicher Zweck des gigantischen Amüsierbetriebes, mit dem die hochproduktiven Industriegesellschaften ihre Bevölkerungen am Band erwünschter Konformität halten. Nicht umsonst trägt die kulturindustrielle Produktivität in wachsendem Maße zum nationalen Gesamtprodukt bei, nur mit ihrer Hilfe können zugleich gut ausgebildete wie auf argwöhnische Sozialkonkurrenz zugerichtete Marktsubjekte davon abgehalten werden, den Schritt über die Grenzen normgerechter Akzeptabilität hinaus in eine Autonomie zu tun, die als gegeben und gültig verwirft, was nicht dem Anspruch auf Selbstbestimmung genügt.

Wie sehr bereits die Normalität neoliberaler Vergesellschaftung von Momenten der Nötigung, des Zwanges, der Angst und Gewalt bestimmt ist, erfahren häufig nur diejenigen, die bereits aus dem Rahmen der Arbeitsgesellschaft gefallen sind. Wer als flüchtender Mensch entrechtet, aufgrund physischer Abweichungen ausgegrenzt wird oder an heterosexueller Normerfüllung scheitert, wer als Insasse eines Knastes oder einer geschlossenen Anstalt Freiheitsberaubung lange vor Corona erlitten hat, verfügt über Erfahrungen, deren alles bestimmende und verändernde Qualität manche erst in der häuslichen Quarantäne kennenlernen. Gleiches gilt für die Opfer patriarchaler oder sozialökonomischer Gewalt - von den herrschenden Verhältnissen verursachte Ohnmachtserfahrungen können einen subjektive Ausnahmezustand erzeugen, der, bei aller Schmerzhaftigkeit, im besten Falle produktiv in sozialen Widerstand gewendet wird.


... von Gewalt und Zerstörung befreiten Lebens

An der Grenze des Umschlagens der notgedrungenen Einsicht in seuchenmedizinisch verordnete Maßnahmen in radikales Aufbegehren entlang zu manövrieren, ohne sie auf eine für Staat und Kapital unverträgliche Weise zu überschreiten, erfordert das ganze Potential sozialstrategischer Intelligenz und administrativer Durchsetzungskraft. So gut die aktuellen Maßnahmen der Infektionsabwehr im Gebot des Schutzes menschlichen Lebens begründet sind, weisen sie auf der Linie der juridischen Aussetzbarkeit verfassungsrechtlicher Prinzipien durch Notstandsprivilegien und Sonderrechte immer auch die Kontur des autoritären Maßnahmestaates auf. Diesen in eine zivile Form zu überführen, mit der auf die Wirksamkeit der Foucaultschen Disziplinargesellschaft nicht verzichtet werden muß, während der Staatszweck kapitalistischer Akkumulation aufrechterhalten bleibt, ist der Kern des nun eingeschlagenen Weges einer biopolitischen Verfügbarkeit der Bevölkerung von zugleich hochauflösender Sichtbarkeit individuellen Verhaltens wie marktgerechter Zweckerfüllung des Gesamtsystems.

In der Vorstellung Foucaults hat die Disziplinarmacht im Panopticon, dem Typ des Gefängnisses, in dem alle Insassen der permanenten Beobachtung des Blickes eines Wachpersonals ausgesetzt sind, das für sie unsichtbar bleibt, ihr höchstes Stadium erreicht. Die systematisch Delinquenz produzierende Normalisierungsmacht habe den Erfolg des Gefängnisses als gesellschaftliche Institution bis heute garantiert, und das nicht zuletzt deshalb, weil die Unterwerfung unter ihre disziplinierende Gewalt die Verinnerlichung der dadurch aufgeherrschten Normen bewirkt hat. Man könnte auch sagen, daß die eigene Teilhaberschaft an einer Gesellschaft, die auf diese Weise darüber entscheidet, wer leben darf und wer sterben muß, in der Hoffnung und Aussicht begründet liegt, durch diese Ordnung davor gerettet zu werden, ganz und gar auf sich selbst gestellt, also allein zu sein.

Übertragen auf das Gebot des Social Distancing und seiner informationstechnischen Regulation soll gerade der Abstand Nähe garantieren, und sei es nur in Form eines vermeintlich festen Platzes in der Ordnung der Dinge, als Arbeitsmonade, Marktsubjekt und Staatsbürger. Mit dem Einziehen neuer, die Bruchlinien klassengesellschaftlicher, ethnischer und geschlechtlicher Art um medizinische Kriterien erweiternde Grenzen wie insbesondere der zwischen noch nicht infizierten und bereits gegen COVID-19 immunisierten Personen wirft eine biologisierte Sozialordnung ihren Schatten voraus, die bislang dominante Verwerfungen sozialer Art noch wirksamer aus jeder gesellschaftlich relevanten Reflektion verbannt, als es unter dem Umstand neoliberaler Bezichtigungslogik ohnehin schon der Fall ist.

Nun ist nicht nur jeder Mensch selbst schuld an einer physischen Misere, die ihn in die Abhängigkeit von den ExpertInnen und Institutionen medikalisierter Sozialkontrolle treibt, obschon sie Ergebnis eines Bioorganismen wie anorganische Stoffe industriell verheizenden Brandes ist. Nun betritt auch noch der Notstand der Infektionsabwehr die Arena sozialen Kampfes und setzt Handlungszwänge frei, die den Kern gesellschaftlicher Organisation betreffen. Kooperatives Handeln soll ausschließlich nach Maßgabe eines vermeintlichen Naturzwanges erfolgen, die revolutionäre Evidenz des Kampfbegriffes "Solidarität" wird affirmativ auf den Kopf gestellt, die rhetorische Militarisierung der Infektionsabwehr unterstellt ein unsichtbares Drittes, als ob jegliche Form sozialer Repression mit dem Auftreten von SARS-CoV-2 ein Ende gefunden habe. Das Soziale, was Menschen im Überlebensstreß entzweit, aber auch zu unerwarteter Handlungsmacht und unverbrüchlicher Kollektivität Anlaß geben kann, wird vollends biologisiert und damit aller offenen Fragen entledigt, die Menschen nur stellen können, wenn sie frei genug sind, nicht ausschließlich vom Druck der Not und dem Hunger der Bedürftigkeit getrieben zu werden.

In der pandemischen Kontrollgesellschaft besetzen Sachzwanglogik und Ansteckungsrisiko allen Platz, den es bedarf, über Formen des Zusammenlebens nachzudenken, die Bedingungen dieser und kommender Krisen so zu antizipieren, daß neue Wege der Krisenbewältigung und -vermeidung beschritten werden können. Das erklärte Ziel, zum Normalfall der kapitalistischen Wachstums- und Wettbewerbsordnung zurückzukehren, als bestehe dieser nicht im permanenten Bruch mit jeglicher Normalität, die nicht von sozialdarwinistischen und feindseligen Motiven regiert wird, nimmt den Totalschaden praktisch im Voraus in Kauf, um an klassengesellschaftlicher Unterdrückung und kriegerischer Staatenkonkurrenz festhalten zu können. Als sei mit der Coronapandemie nicht eine weitere Mahnung ergangen, die verbrauchsintensive Destruktivität dieses Produktionsmodells zu beenden, wird auf Sicht gefahren, als hänge die Zukunft tatsächlich vom Überleben verbrauchsintensiver Individualmobilität, das Gros der Menschen übervorteilender Finanzmarktaktivitäten, die Böden auslaugender, die Meere und das Trinkwasser vergiftender Nahrungsmittelproduktion ab.

Von daher stehen alle technologischen Innovationen wie etwa die des per Smartphone vollzogenen Contact Tracings oder einer Überwachung des öffentlichen Raumes durch temperatursensible Drohnen unter Verdacht, als biopolitische Dual-Use-Güter zugleich objektiver Notwendigkeit wie herrschender Willkür zu dienen. Die Frage allein, ob derartige Methoden ihre beanspruchten Zwecke erfüllen, kann nur in die Irre führen, wenn die Durchsetzung innovativer Technologien nicht daraufhin überprüft wird, ob sie dazu beitragen, den grundlegenden Neubeginn im Mensch-Natur-Verhältnis in Reichweite zu rücken. Wo der biopolitische Sachzwang exekutiert wird, ohne das größere Ganze einer Zukunft aller Menschen mitzudenken, warten eugenische und bevölkerungspolitische Rezepturen von genozidaler Dimension darauf, von den Potentaten faschistischer Biomacht abgeholt und eingesetzt zu werden. Hier droht die Konsequenz der auf Teilung und Trennung basierenden Logik der Seuchenbekämpfung hervorzutreten, zwischen Virus und Wirt nicht mehr unterscheiden zu müssen, weil beide als Ensemble gefährlicher Infektiosität bekämpft werden müssen.

Die Postcorona-Gesellschaft wird begründeterweise unter permanentem Pandemieverdacht stehen, weil die zivilisatorische Entwicklung in ihrer Produktionsweise Grenzen überschritten hat, hinter die das Pandämonium stoffwechselbedingter Mutationen und Rekombinationen nur sehr schwer zurückzudrängen sein wird. Als multidimensional in Naturprozesse eingebundene Tiere werden die Menschen nicht umhin können, ihre Produktions- und Verbrauchsweise fundamental zu überdenken, insbesondere was den Primat privatwirtschaftlichen Eigentums betrifft. Der existenziellen Einbindung menschlicher Tiere in die vielfältigen Wechselverhältnisse zwischen Kleinstorganismen und großen ökologischen Systemen gemäß braucht die Behauptung, irgend etwas gehöre irgend jemandem und könne anderen dadurch vorenthalten werden, nicht einmal dementiert zu werden. Ökosozialismus, Kommunismus, Anarchismus - Befreiung von Zwang und Herrschaft steht ganz bestimmt am Anfang dieses von vielen positiven Verbesserungen und spannenden Entdeckungen begleiteten Weges, den nicht einzuschlagen Gefahr läuft, Kontrollverluste von einer Zerstörungskraft hervorzubringen, über die nicht mehr nachgedacht werden braucht, weil unumkehrbare Verhältnisse geschaffen wurden.


Fußnote:

[1] Michel Foucault - Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main 1977, S. 253

20. April 2020


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