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KRIEG/1409: Besatzungsmächte massakrieren afghanische Zivilisten (SB)



Wo Krieg geführt wird, hat der vielzitierte gesunde Menschenverstand ausgedient, sofern man ihn nicht kurzerhand mit der Ratio gleichsetzt, daß er jede Lüge zu schlucken bereit ist, sofern man sie nur oft und unverfroren genug wiederholt. Anders wäre kaum zu erklären, wie das eskalierende Abschlachten von Afghanen um so dreister und allen Fakten spottend mit dem seit mehr als acht Jahren postulierten Zweck gerechtfertigt wird, man wolle das Land befreien und seiner Bevölkerung Frieden und Fortschritt bringen.

Den Guerillakrieg, wie er von den Kräften des afghanischen Widerstands gegen das verhaßte Besatzungsregime geführt wird, versuchen die verbündeten fremden Mächte und deren einheimische Kollaborateure mit massiven militärischen Mitteln niederzuschlagen. Da man einen Gegner bekämpft, der im Lande lebt und folglich weder zu isolieren noch zu vertreiben ist, nimmt man die Afghanen in ihrer Gesamtheit ins Visier, um ihnen den rebellischen Geist gewaltsam auszutreiben. Weil diese Repression zwangsläufig Aufbegehren wachruft, lodern die Flammen des Krieges um so höher, je grausamere Angriffe die Okkupanten in der schwindenden Hoffnung auf seine siegreiche Beendigung vortragen.

Jüngstes Zeugnis dieses Verlaufs ist der NATO-Luftangriff auf drei Fahrzeuge im Bezirk Gudschran an der Grenze der beiden Provinzen Dai Kundi und Urusgan, bei dem nach afghanischen Angaben 27 Zivilisten getötet und zwölf weitere verletzt wurden, wobei sich unter den Toten vier Frauen und zwei Kinder befanden. Die ISAF bestätigte, daß Kampfflugzeuge eine Gruppe von Fahrzeugen beschossen haben, in denen Aufständische vermutet worden seien. Nach Angaben des Provinzgouverneurs von Dai Kundi, Sultan Ali Urusgani, ließ die NATO drei Minibusse mit Zivilisten bombardieren, die auf dem Weg nach Kandahar im Süden Afghanistans waren.

Nach diesem neuerlichen Massaker übte die afghanische Marionettenregierung unter Krokodilstränen scharfe Kritik an den ausländischen Truppen und erklärte, dieser "unverantwortliche" Zwischenfall sei durch nichts zu rechtfertigen. Die von der NATO geführte Afghanistan-Schutztruppe ISAF müsse bei jeder Militäroperation "maximale Vorsicht" walten lassen, forderte das Kabinett in Kabul ungeachtet seiner Beteiligung am Krieg gegen die eigene Bevölkerung.

Der Befehlshaber der NATO-Truppen in Afghanistan, US-General Stanley McChrystal, drückte dem afghanischen Präsidenten Hamid Karsai bei einem Gespräch "seine Trauer und sein Bedauern über das tragische Ereignis" aus, wie die NATO mitteilte. "Wir sind sehr traurig über den Verlust unschuldiger Leben", behauptete der General in einer Stellungnahme, als glaube er allen Ernstes an seine eigene Propagandainszenierung, wonach der Schutz der Bevölkerung und nicht das Töten von "Taliban" im Mittelpunkt stehen müsse.

Auch der stellvertretende NATO-Kommandeur Nick Parker weiß, daß die letzte verbliebene Glaubwürdigkeit der Afghanistan-Schutztruppe schwindet, wenn sie fortgesetzt Zivilisten massakriert: "Wir versuchen alles, um diese Fehler zu vermeiden. Im Namen der Schutztruppe ISAF und seines Kommandeurs entschuldige ich mich für das Leid, das wir einigen Familien zugefügt haben."

Als Stanley McChrystal im Juni vergangenen Jahres das Kommando über die ISAF übernommen hatte, verordnete er seinen Soldaten einen fiktiven Kurswechsel. In seiner "Richtlinie zur Aufstandsbekämpfung" schrieb er: "Verdient euch die Unterstützung der Menschen, und der Krieg ist gewonnen." Doch seit Beginn der Großoffensive in Südafghanistan, die als Testfall für die ISAF-Strategie gilt, haben Soldaten binnen acht Tagen fast 50 Zivilisten getötet.

Rekapitulieren wir: Zu Beginn der Offensive in der südafghanischen Provinz Helmand appellierte Präsident Hamid Karsai an die Truppen, "absolute Vorsicht" walten lassen, um Schaden von Unbeteiligten abzuwenden. Doch bereits am zweiten Tag der Operation "Muschtarak" ("Gemeinsam") verfehlten Raketen der NATO-geführten ISAF eine Taliban-Stellung, zwölf Zivilisten starben. McCrystal entschuldigte sich bei Karsai und gelobte besseren Schutz der Zivilbevölkerung. Am Tag darauf töteten ISAF-Bomben fünf Zivilisten in Helmands Nachbarprovinz Kandahar. Während der Operation "Muschtarak" erschossen Soldaten außerdem mindestens vier Zivilisten, die sie irrtümlich für Taliban-Kämpfer hielten. Am Montag wurde der blutigste Fall seit Jahresbeginn bekannt, wobei die Zivilisten nicht durchs Kampfgebiet in Helmand fuhren, sondern von der südafghanischen Provinz Dai Kundi nach Kandahar unterwegs waren, als ISAF-Bomben ihren Konvoi trafen.

Hatte man früher Berichte über getötete Zivilisten kurzerhand als Desinformationskampagne der Taliban abgeschmettert und die Massaker verschwiegen, geleugnet oder Monate später kaltschnäuzig gerechtfertigt, so hat man inzwischen Kreide gefressen. Klagend liegen sich die Kumpane McChrystal und Karsai in den Armen, wortreiche Vorwürfe und Entschuldigungen fliegen hin und her, während man schon einmal in der Portokasse kramt, um die Hinterbliebenen abzufinden.

Karsai hatte bereits 2007 die zivilen Opfer als "nicht mehr verständlich" bezeichnet und mit zur Schau getragener Erbitterung erklärt: "Afghanen sind auch Menschen." Wohl wissend, daß die Besatzungsmächte, mit deren Präsenz und Wohlwollen er steht und fällt, diese Auffassung günstigstenfalls bedingt teilen, stellte er sich für die westlichen Medien demonstrativ vor sein Volk, wenn dieses schon nicht hinter ihm steht.

"Wir müssen die Falle vermeiden, taktische Siege zu erzielen, während wir gleichzeitig strategische Niederlagen erleiden, indem wir zivile Opfer oder exzessive Schäden verursachen und damit das Volk verprellen", heißt es in der Direktive General Stanley McChrystals. Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, daß diese Erkenntnis für die ausländischen Besatzungsmächte in Afghanistan zu spät kommt.

22. Februar 2010