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KRIEG/1516: Siegesmeldung verfrüht - Libyen droht ein langer Bürgerkrieg (SB)



Wie wir heute wissen, hatte der Krieg, der Hunderttausende Iraker das Leben kosten sollte, gerade erst begonnen, als ihn der damalige US-Präsident George W. Bush von Bord eines Flugzeugträgers aus voreilig für beendet erklärte. Auch in Afghanistan feierten die Angriffsmächte eine erfolgreich abgeschlossene Intervention, nachdem der Luftkrieg in Verbindung mit den verbündeten Milizen am Boden einen Regimewechsel herbeigeführt hatte. In keinem der beiden noch immer besetzten Länder kann von einer Rückkehr zum Frieden die Rede sein, während die Lebensverhältnisse für die Bevölkerungsmehrheit schlechter als vor dem Angriffskrieg sind. Im Falle Libyens eine vergleichbare Entwicklung rundweg auszuschließen, hieße daher, die Augen vor den Erfahrungen der jüngsten Geschichte imperialistischer Aggression zu verschließen.

Die vielerorts kolportierte Propagandaformel, das libysche Volk habe sein Schicksal in die eigenen Hände genommen und diesen Kampf siegreich beendet, erweist sich bei Überprüfung als Mythenbildung aus der Gerüchteküche ideologischer Kriegsführung zur Legitimation des Waffengangs. Nur eine Woche nach den ersten Straßenprotesten erklärte der französische Präsident Nicolas Sarkozy bereits am 25. Februar, daß Muammar al Gaddafi verschwinden müsse. Am 28. Februar trat der britische Premierminister David Cameron mit der Forderung nach Durchsetzung einer Flugverbotszone an die Öffentlichkeit. Am 30. März berichtete die New York Times, daß seit Mitte Februar und damit dem Beginn der Protestbewegung CIA-Agenten in Libyen im Einsatz seien. Ihnen zur Seite stünden britische Special Forces und Geheimdienstmitarbeiter des MI6. Ebenfalls Mitte Februar habe US-Präsident Barack Obama in einem geheimen Erlaß die CIA autorisiert, die libyschen Aufständischen mit Waffen und Ausrüstung zu versorgen sowie verdeckte Operationen durchzuführen. [1]

Anfang März entsandte USAID ein Team nach Libyen, und am 14. März versicherte Abdel Hafeez Goga vom Nationalen Übergangsrat, man könne die Kontrolle des gesamten Landes übernehmen, sofern nur die Flugverbotszone eingerichtet werde. Ende des Monats sprach sich Obama offiziell für das Kriegsziel aus, Gaddafi zu stürzen. Obgleich die Führung der Aufständischen Stein und Bein schwor, daß keine ausländischen Soldaten libyschen Boden betreten würden, hat die NATO inzwischen selbst bestätigt, daß Spezialkräfte aus Britannien, Frankreich, Jordanien und Katar in Tripolis und anderen Städten zur Unterstützung der regierungsfeindlichen Kräfte im Einsatz waren.

Von einer eigenständigen, nationalen Erhebung des Volkes gegen ein diktatorisches Regime, das keinerlei Rückhalt in der Bevölkerung hatte, kann keine Rede sein. Vielmehr deuten die rekonstruierbaren Zeichen auf eine insbesondere von der britischen und französischen Regierung geplante und mit der vorab gebildeten Führung der Aufständischen koordinierte Intervention zum Zweck des Regimewechsels in Libyen hin. Die Hoffnung, daß sich der Aufstand "organisch" entwickeln werde, wie es ein hochrangiger Vertreter der US-Regierung ausdrückte, erfüllte sich nicht. War die unablässig bemühte Parallele zu den Umwälzungen in Tunesien und Ägypten von Beginn an fadenscheinig, weil es sich im Falle Libyens um einen bewaffneten Aufstand handelte, so gelang es den Rebellen zu keinem Zeitpunkt, die Regierungstruppen aus eigener Kraft nachhaltig zurückzudrängen. De facto drohten sie sogar zu unterliegen, hätte die NATO nicht ihren Luftkrieg ausgeweitet und beim Sturm auf die Hauptstadt mit massierten Spezialeinheiten nachgeholfen.

Die Greuel dieses Krieges werden fast beiläufig erwähnt und wie eine unvermeidliche Selbstverständlichkeit abgetan, wenn von Schätzungen zwischen 30.000 und 50.000 Toten die Rede ist. Von der Sondersitzung der Arabischen Liga in Kairo, auf der in Abwesenheit zahlreicher Mitglieder kurzerhand der Ruf nach einer Flugverbotszone formuliert wurde, über das nie eingehaltene Mandat, welches die Beteiligung am Bodenkrieg ausschloß, bis hin zur gezielten Bombardierung von Einzelpersonen, zivilen Zielen und Gruppen von Zivilisten wäre der Tatbestand verübter Kriegsverbrechen vielfach erfüllt, handelte es sich dabei nicht um einen Terminus, über den stets die Sieger gebieten.

Amnesty International hat die neue Führung Libyens dazu aufgerufen, Menschenrechtsverletzungen durch ihre Anhänger Einhalt zu gebieten. Wie es in einem aktuellen Bericht der Organisation heißt, hätten Kämpfer des Nationalen Übergangsrats Dutzende Anhänger des ehemaligen Machthabers Gaddafi "entführt, willkürlich gefangengehalten, gefoltert und getötet". Bei den mißhandelten Anhängern Gaddafis handelte es sich demzufolge um Mitglieder seiner Sicherheitskräfte, vermeintliche Verbündete, gefangengenommene Soldaten sowie Ausländer, die irrtümlich für Söldner gehalten worden seien. Amnesty warf dem Übergangsrat vor, die Vergehen zwar zu verurteilen, "ihr Ausmaß und ihre Schwere" aber herunterzuspielen. Insbesondere reagiere er nicht auf Gerüchte, wonach Schwarzafrikaner, die vielfach als Gastarbeiter ins Land kamen, unter Generalverdacht stehen, für Gaddafi gekämpft zu haben. [2]

Es steht zu befürchten, daß diese keineswegs unterdrückte, sondern durch alle Medien zirkulierende Meldung unter der Rubrik vorgeblicher neuer Offenheit verbucht wird und folgenlos bleibt. Dafür hat schon Amnesty International mit der vorweggenommenen Erklärung gesorgt, in den Tagen des Aufstands hätten funktionierende Institutionen gefehlt. Das Vakuum hätten die Anti-Gaddafi-Kämpfer ausgefüllt, die ohne Training und Erfahrung sowie ohne Aufsicht oder Verantwortlichkeiten vorgingen. Rebellenführer hätten Amnesty gegenüber die Verbrechen zwar verurteilt, sie aber auch kleingeredet und angesichts der Verbrechen der Gaddafi-Truppen teils als "verständlich" bezeichnet. Wie Amnesty selbst hervorhebt, seien die Taten der Aufständischen nicht mit dem Ausmaß der Verbrechen unter Gaddafi vergleichbar. [3]

Daß die westlichen Mächte in Bezug auf das von ihnen installierte Regime in Libyen grundsätzlich andere Maßstäbe anlegen als im Falle nicht kontrollierter Bewegungen oder gar als feindlich eingestufter Organisationen oder Regierungen unterstreichen die Reaktionen auf die erste öffentliche Rede Mustafa Abdal Dschalils in Tripolis. Wie der Vorsitzende des Übergangsrates vor Tausenden Anhängern ankündigte, solle Libyen ein demokratischer islamischer Rechtsstaat werden, mit der Scharia als wichtigster Quelle der Gesetzgebung. "Wir sind ein muslimisches Volk, für einen moderaten Islam und wir werden auf diesem Weg bleiben." Die neue Regierung werde keine extremistische Ideologie von links oder rechts akzeptieren.

Unter anderen Umständen hätte der bloße Bezug auf die Scharia augenblicklich einen Sturm der Empörung und Diffamierung wie auch den Ruf nach Sanktionen in westlichen Medien ausgelöst. Nicht so im Falle des Übergangsrats, bei dem man sich plötzlich des ansonsten so gern ignorierten Umstands besinnt, daß diese Rechtsordnung ein breites Spektrum möglicher Interpretationen und Auslegungen umfaßt. Auch in nicht islamistisch regierten Staaten der islamischen Hemisphäre gelte dieser von Dschalil bekräftigte Grundsatz, wenn man einmal von der säkularen Türkei absieht. Selbst im benachbarten Ägypten, das unter den Präsidenten Sadat und Mubarak ein Freund des Westens gewesen sei, war die Scharia offiziell die wichtigste Quelle des Rechts.

Natürlich gebe es unterschiedliche Auffassungen, da sich die Auslegung der Taliban in Afghanistan oder der Saudi-Araber erheblich von jener in Palästina oder dem neuen Libyen unterscheide. Daß Libyen jedoch ein "Gottesstaat" werde, hält die konservative FAZ schlichtweg für unwahrscheinlich. Kaum anders sieht es die Süddeutsche Zeitung, die alle Aufregung für verfrüht erklärt. Selbst Gaddafis "Grüne Revolution" habe starke islamische Anteile enthalten, und der Islam bleibe nach dem Zerfall der alten Ideologie ein gemeinsamer Nenner für die Nation. Entscheidend werde sein, ob die Scharia künftig erste Quelle der Gesetzgebung oder eine ihrer Quellen sein wird. Hier ergebe sich ein weiter Spielraum, beschwichtigt die SZ.

Die viel wichtigere Frage, was den Übergangsrat in Libyen zur Regierungsbildung legitimiert, bleibt auf der Strecke. Nach zahlreichen ausländischen Regierungen haben nun auch der Internationale Währungsfonds und die Weltbank dem Provisorium ihren Segen erteilt. "Unsere Experten haben bereits angefangen, sich mit ihren Partnern abzusprechen, und arbeiten daran, schnell die Arbeit aufzunehmen", heißt es seitens der Weltbank. Die Anfragen aus Libyen beträfen insbesondere die Wasser- und Energieversorgung sowie den Transportsektor, wobei natürlich unerwähnt bleibt, daß es vor allem die Luftangriffe der NATO waren, welche die Infrastruktur systematisch zerstört haben.

Daß die Aufständischen den proklamierten endgültigen Sieg noch längst nicht errungen haben, da die Kämpfe um die letzten Hochburgen regierungstreuer Kräfte unvermindert anhalten, sind nicht die Nachwehen eines nahezu bewältigten Waffengangs. Mit dem Nationalen Übergangsrat wurde ein von inneren Zerwürfnissen und äußeren Anfechtungen gekennzeichnetes Regime in den Sattel gehoben, das die aufbrechenden Widersprüche nur befristet deckeln und verschleiern kann. Gaddafi hatte eine Gesellschaft rivalisierender Stämme und ethnischer Unterschiede zu einem Staatswesen zusammengefügt, das den höchsten Lebensstandard auf dem gesamten Kontinent aufwies. Der Angriffskrieg der westlichen Mächte hat dieses Gefüge zerstört, um eine verfügbare Konkursmasse zu generieren. Absehbare Folge sind eskalierende Rivalitäten um die Macht, ein Aufbrechen alter Konflikte und insbesondere erbitterte Überlebenskämpfe in Folge anwachsender Notlagen, mit denen die Libyer einen hohen Preis für den Umsturz bezahlen, der alles andere als ein Revolution war.

Fußnoten:

[1] http://www.counterpunch.org/2011/08/31/the-top-ten-myths-in-the-war-against-libya/

[2] http://www.faz.net/artikel/C30000/erste-rede-dschalils-libyen-soll-rechtsstaat-werden-30685798.html

[3] http://www.sueddeutsche.de/p5Z38H/199588/Angst-vor-Libyens-Islamiste.html

14. September 2011